Der blaurote Methusalem. Karl May
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Als die Männer auf das Deck traten, war es dunkle Nacht. Zwischen Mittel- und Hintermast hingen Papierlaternen, welche den Platz leidlich erleuchteten. In der Nähe des bereits erwähnten Tisches, welcher die Weihgeschenke für den Geist enthielt, stand ein zweiter, der mit einer glatten Schicht Sand bedeckt war. Die Mannschaft bildete um diese Stelle einen Kreis, in welchen der Ho-tschang die Deutschen führte. Dort waren mit Hilfe von Kisten Sitze für sie hergerichtet.
Als sie sich unter allgemeinen Verbeugungen da niedergelassen hatten, trat der Priester hervor und begann, natürlich in chinesischer Sprache: »Wir stehen im Begriff, einen Geist über den Verlauf unsrer Fahrt zu befragen. Wir bringen hierzu die ernstesten, weihevollsten Gesinnungen mit und werden unsre Bitte an Mat-supo, die erhabene Gottheit des Meeres, richten.«
Er gab einen Wink, worauf zwei Sessel und das Bild der Meeresgottheit gebracht wurden. Er stellte die Stühle eng nebeneinander an eine Seite des mit den Opfergaben bedeckten Tisches und forderte die Gottheit auf, sich auf den Ehrenplatz niederzulassen. Da in China der Vornehmere zur Linken sitzt, so wurde das Bild auf den betreffenden Sessel gestellt, während der jetzt noch leere rechte Stuhl für den zu erwartenden Geist bestimmt war.
Jetzt zog der Priester ein gelbes, beschriebenes Papier hervor und las den Inhalt desselben laut ab. Dieser lautete: »Wir haben an diesem Abende Sam-chu und andre Gaben vorbereitet und ersuchen unsern mächtigen Schutzpatron, uns einen allwissenden Geist zu rufen, welchem wir unsre Fragen vorlegen können. Wir werden denselben dort an der Schiffstreppe empfangen.«
Er verbrannte das Papier und warf die Asche in die Luft. Nun entstand eine mehrere Minuten lange Pause des Wartens, denn man mußte doch dem Schutzpatron Zeit lassen, einen passenden Geist zu finden. Während dieser Pause hatte der Priester das Götzenbild mit einem Tuche bedeckt, um anzudeuten, daß die Meeresgottheit sich auf der »Suche« nach dem Geiste befinde und also abwesend sei.
Dann entfernte er das Tuch. Das Bild stand auf seinem Platze; die Gottheit war also wieder zurück und hatte jedenfalls einen Geist, welcher nun unten an der Schiffstreppe wartete, mitgebracht. Darum gab der Priester dem Ho-tschang und dem To-kung einen Wink, denselben dort abzuholen.
Die beiden Offiziere gingen nach der Treppe und forderten den Geist in lauten, höflichen Worten auf, herauf zu kommen und sich bei ihnen niederzulassen. Höchst wahrscheinlich hatte er dieser Einladung Folge geleistet, denn sie brachten ihn zwischen sich geführt, indem sie sich unaufhörlich gegen ihn verbeugten. Der Priester empfing ihn mit ebenso tiefen Verneigungen und ersuchte ihn ehrerbietigst, auf dem für ihn reservierten Stuhle Platz zu nehmen.
Diese Scene war so wunderlich, daß die Deutschen kaum im stande waren, ihr Lachen zu unterdrücken. Der Geist war natürlich unsichtbar, und darum nahmen sich die Verbeugungen und die an ihn gerichteten Worte außerordentlich komisch aus.
Alle an einen Geist gerichteten Fragen müssen auf ein Papier geschrieben werden, welches man dann verbrennt, um den geschriebenen Zeichen, wie man meint, eine geistige Form zu geben. Jetzt schrieb der Priester zunächst die Frage auf, ob der »wolkenwandelnde« Geist angekommen sei, verbrannte das Papier und streute die Asche in die Luft. Dann ergriff er den Geisterpinsel in der beschriebenen Weise und hielt denselben über den mit Sand bestreuten Tisch. Seine Hände begannen zu zittern; das Werkzeug kam in Bewegung, und der Aprikosenzweig fuhr hörbar durch den Sand. Der Methusalem schaute nach. Da stand deutlich geschrieben: »To«, d. i. angekommen.
Er war also da. Weil der Priester den Pinsel zu halten hatte, mußte im weiteren Verlaufe der Kapitän die Fragen aufschreiben und die Papiere in Asche verwandeln. Durch die nun an den unsichtbar auf dem zur rechten Hand sitzenden Auskunftgeber gerichteten Fragen und die von ihm mit Hilfe des Priesters in den Sand geschriebenen Antworten erfuhr man, daß er zuletzt Kia-tsong geheißen habe und unter der Dynastie der Wu-ti[29] ein Wang[30] des Ostens gewesen sei. Da die berühmten Wu-ti vor über viertausend Jahren gelebt haben und ein Wang der höchste Beamte des Reiches ist, so war der unsichtbar anwesende Vicekönig jedenfalls ein Geist, auf den man stolz sein konnte.
Das sah der Priester natürlich ein. Er fühlte sich zur größten Höflichkeit verpflichtet, legte seinen Geisterpinsel beiseite, verbeugte sich zur Erde und bat den Geist, doch die Güte zu haben und von dem Weine zu kosten.
Dieser Wein war kein Traubenwein, sondern gegorener Reis, Sam-chu genannt. Ein Geist ist natürlich zu stolz, zu essen oder zu trinken, wenn Leute es sehen, welche noch ungestorben sind. Darum wurden die Laternen mit Matten, welche zu diesem Zwecke bereit gehalten waren, verhängt, so daß es rundum dunkel war.
Der Methusalem war der einzige unter den Passagieren, welcher alles verstand.
Gottfried von Bouillon und Richard Stein hatten sich während der Schiffsreise zwar auch mit der chinesischen Sprache beschäftigt, waren aber noch nicht so weit, einer solchen Ceremonie von Wort zu Wort folgen zu können. Turnerstick und der Dicke verstanden aber gleich gar keine Silbe. Darum benutzte Degenfeld jede eintretende, wenn auch noch so kleine Pause, ihnen mit leiser Stimme das Gehörte zu verdolmetschen und das Gesehene zu erklären.
Der Tisch mit dem Sande war, sobald das Fragen und Antworten begann, an den Opfertisch gerückt worden, so daß nur drei Seiten des letzteren frei blieben. Die erste dieser Seiten nahmen die beiden Sessel ein, auf denen die Meeresgottheit und der Geist thronten; an den beiden übrigen Seiten saßen die fünf Passagiere, und zwar so, daß der Mijnheer sich zur rechten Hand des Geistes befand. Diesem flüsterte, sobald die Laternen jetzt verdunkelt waren, der Blaurote zu: »Passen Sie auf, Mijnheer, ob der Geist trinken wird! Man wird es doch vielleicht hören.«
Nach einet kurzen Pause berichtete der Dicke in ebenso leisem Tone: »Hij drinkt, hij drinkt! Ik hoor 't slaarpen – er trinkt, er trinkt! Ich höre es schlürfen.«
»Es ist der Priester!«
»Deze vos! Ik word hijm leeren! Ik wet, wat ik word maken – dieser Fuchs! Ich werde ihm lehren! Ich weiß, was ich machen werde!«
Als dann auf einen Befehl des Priesters die Matten wieder von den Laternen entfernt worden waren, konnte jedermann sehen, daß der Geist getrunken hatte, denn der Inhalt des Gefäßes hatte sich vermindert.
Nun wurde der Geist gefragt, ob man gutes Wetter bekommen, ob die Fahrt glücklich sein und ob man gute Geschäfte machen werde. Die Antworten fielen so glücklich aus, daß der Priester sich verpflichtet fühlte, den Geist aufzufordern, ein Stück des auf dem Tische liegenden Kuchens zu essen.
Das Gebäck sah höchst appetitlich aus und war in acht gleich große Teile geschnitten. Wieder wurden die Lampen verhängt, dieses Mal für längere Zeit, denn selbst ein Geist bedarf mehr Frist, ein Stück Kuchen zu essen als um einen Schluck Branntwein zu nehmen.
Als dann die Laternen wieder enthüllt wurden, staunten alle. Der Geist hatte sich nicht nur mit einem Achtel begnügt, sondern den ganzen Kuchen verzehrt. Er war jedenfalls aus sehr weiten Regionen herabgestiegen, da er einen so großen Hunger hatte. Am meisten erstaunt war der Priester selbst. Seine Augen waren ganz erschrocken auf den Teller gerichtet, auf welchem der Kuchen gelegen hatte. Er wußte nicht, was er denken sollte. Der Zopf wollte ihm vor Schreck zu Berge steigen. Er hatte gemeint, einen Hokuspokus zu begehen. Sollte es doch in Wirklichkeit Geister geben? Sollte das Kong-pit kein Betrug sein? Sollte in Wahrheit dort auf dem scheinbar leeren Sessel ein Geist sitzen, der in so kurzer Zeit die übrigen sieben Achtel verschlungen hatte? Denn das eine Achtel hatte er, der Priester, im Schutze