Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling
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Am Abend beim Diner im vizeköniglichen Zelt erhob er sich, geschmückt mit Stern und Ordensband, und hielt in Erwiderung einer Rede auf seines Königs Gesundheit eine Ansprache, die kaum ein Engländer hätte übertreffen können.
Im Monat darauf, als über der Stadt wieder sonnendurchglühte Ruhe lag, tat er etwas, was einem Engländer auch nicht im Traume eingefallen wäre – er starb für die Welt. Der juwelengeschmückte Orden seiner Ritterschaft ging an die indische Regierung zurück, ein neuer Erster Minister wurde mit der Führung der Staatsgeschäfte betraut, und ein eifriges Spiel »Wechselt das Bäumchen« begann in den untergeordneten Beamtenstellen. Die Priester wußten, was vorgegangen war, und das Volk erriet es; aber Indien ist das einzige Land in der Welt, wo man tun kann, was einem beliebt, ohne daß nach dem »Warum« gefragt wird. Nichts Außergewöhnliches fand man in der Tatsache, daß Sir Purun Daß K.C.I.E. Amt, Palast und Macht entsagte, um das ockergelbe Gewand eines »Sunnjasi« oder heiligen Mannes anzulegen und die Bettelschale zu nehmen. Wie das alte Gesetz empfiehlt, war er zwanzig Jahre ein Jüngling gewesen, zwanzig Jahre ein Kämpfer – obgleich er nie in seinem Leben eine Waffe geführt hatte – und zwanzig Jahre das Haupt eines Hausstandes. Reichtum und Macht hatte er entsprechend dem Werte, den er ihnen beimaß, genutzt; Ehren hatte er genommen, wenn sie ihm entgegengebracht wurden; Menschen und Städte hatten sich vor ihm geneigt und ihn geehrt. Nun ließ er das alles fallen, wie ein Mann den Mantel abwirft, wenn er seiner nicht mehr bedarf.
Als er durch das Stadttor schritt, ein Antilopenfell auf den Stab mit messingnem Griff über dem Arm, die Bettelschale aus poliertem braunem Seekokos in der Hand, barfuß, einsam, die Blicke gesenkt, ertönten hinter ihm von den Bastionen die Salutschüsse zu Ehren seines glücklichen Nachfolgers. Purun Daß nickte. Das Leben war beendet; belanglos war für ihn das Vergangene, nicht besser und nicht schlechter als ein farbloser Traum.
Ein Sunnjasi war er jetzt – unbehaust, ein wandernder Bettler, für sein tägliches Brot auf die Gnade seiner Mitmenschen angewiesen, und solange noch ein bißchen zu teilen ist in Indien, hungert kein Priester und kein Bettler. Fleisch hatte er nie in seinem Leben geschmeckt und Fisch nur sehr selten gegessen. Eine Fünfpfundnote hätte ausgereicht, seine Bedürfnisse an Nahrungsmitteln auf ein Jahr auch in jener Zeit zu decken, als er unbestritten Herr über Millionen war. Sogar als er in London der Löwe des Tages gewesen war, hatte er sich immer seinen Traum von Frieden und Ruhe vor Augen gehalten – die lange weiße staubige indische Landstraße, bedeckt mit zahllosen Spuren nackter Füße, dem ununterbrochen träge dahinfließenden Verkehr und dem beißenden Holzrauch, der in der Dämmerung unter den Feigenbäumen aufsteigt, wo die Wanderer bei ihrer Abendmahlzeit sitzen.
Als die Zeit gekommen war, diesen Traum zu verwirklichen, unternahm der Erste Minister die nötigen Schritte – und schon nach drei Tagen wäre es leichter gewesen, ein Bläschen in dem Becken des weiten Atlantischen Ozeans zu finden, als Purun Daß unter den umherstreifenden, sich ballenden und wieder trennenden Millionen Menschen Indiens. Für die Nacht breitete er das Antilopenfell aus, wo immer die Dämmerung ihn überraschte – zuweilen in einem Sunnjasikloster am Rande der Straße; zuweilen bei einem Lehmschrein der Göttin Kala Pir, wo ihn dann die Jogis, eine andere geheimnisvolle Sekte heiliger Männer, aufnahmen wie einen Mann der Bedeutung von Kasten und Sekten; manchmal auch am Rande eines kleinen Hindudorfes, wo die Kinder sich heranstahlen mit Nahrung, von den Eltern gesandt; und zuweilen bei der Quelle eines mageren Weideplatzes, wo dann die Flamme eines kleinen Holzfeuers schläfrige Kamele weckte. Es war alles gleich für Purun Daß oder Purun Baghat, wie er sich jetzt nannte – Erde, Menschen, Nahrung, alles nur eins. Aber seine Füße zogen ihn unbewußt fort, nach Norden und Osten hin; von Süden nach Rohtak, von Rohtak nach Kurnol, von Kurnol nach dem verfallenen Samanah und dann stromaufwärts, das ausgetrocknete Bett des Guggerflusses entlang, das sich nur mit Wasser füllt, wenn in den Bergen die Regen niedergehen, bis er eines Tages die ferne Kette des Großen Himalaja erblickte.
Da lächelte Purun Baghat, denn er entsann sich, daß seine Mutter, von Geburt eine Rajputbrahmanin, aus der Gegend des Kulupasses stammte – eine Frau der Berge, immer mit dem Heimweh nach den Schneegipfeln –, und daß der kleinste Tropfen Bergblut den Menschen am Ende immer dahin zurück» lockt, wo er ursprünglich wurzelte. »Dort oben«, sagte Purun Baghat, indes er die tiefer gelegenen Hänge des Sevalik hinanstieg, wo die Kakteen wie siebenarmige Leuchter stehen, »dort oben werde ich niedersitzen und Wissen erlangen.« Und der kühle Wind des Himalaja pfiff ihm um die Ohren, als er die Straße wanderte, die nach Simla führt.
Das letztemal, als er diese Straße gekommen war, geschah es mit großem Gepränge, mit klirrender Kavallerieeskorte, um den gütigsten und leutseligsten der Vizekönige zu besuchen; und die beiden hatten sich wohl eine Stunde lang über ihre gemeinsamen Bekannten in London unterhalten und von dem, was das indische Volk in Wahrheit dachte und fühlte. Diesmal aber sprach Purun Baghat bei niemandem vor, sondern lehnte am Geländer des Mall, vertieft in die herrliche Aussicht über die Ebene, die sich unter ihm vierzig Meilen weit ausdehnte, bis ein einheimischer mohammedanischer Schutzmann ihm bedeutete, daß er den Verkehr behindere; und Purun Baghat verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor dem Gesetz, denn er kannte dessen Wert, suchte er doch ein Gesetz für sich selbst. Dann pilgerte er weiter und schlief des Nachts in einer leeren Hütte zu Chota Simla, das aussieht, als läge es am Ende der Welt; aber es war nur der Anfang seiner Wanderung.
Dann folgte er der Himalaja-Tibet-Straße, dem zehn Fuß breiten Pfade, der aus massigen Felsen gesprengt ist oder auf Balken über tausend Fuß tiefen Schluchten hängt – dem Pfade, der in feuchte, eingeschlossene Täler hinabtaucht, über kahle grasbewachsene Berghänge klettert, wo die Sonne wie ein Brennglas sticht, oder durch dunkle triefende Wälder sich windet, wo Baumfarne die Stämme von oben bis unten umhüllen und der Goldfasan sein Weibchen lockt.
Tibetanischen Hirten begegnete er mit Hunden und Schafherden, jedes Schaf mit einem Stückchen Borax auf dem Rücken, und wandernden Holzfällern und Lamas aus Tibet, in Mäntel und Wolldecken gehüllt, die nach Indien zur Pilgerfahrt zogen, und Boten kleiner, einsamer Gebirgsstaaten, die auf ihren scheckigen Ponies hastig vorbeijagten, oder der bunten Kavalkade eines Radschas, der auf einen Besuch unterwegs war; oder er sah einen ganzen kristallklaren Tag lang nichts als etwa einen schwarzen Bären, der unten im Tal brummte und wühlte.
Zu Beginn seiner Wanderung tönte noch das Getöse der Welt in seinen Ohren, so wie der Donner im Tunnel nachhallt, wenn ein Zug hindurchgefahren ist. Als er aber den Muttieaniepaß hinter sich hatte, war das alles verklungen – und Purun Baghat war allein mit sich selbst, wandernd, staunend, sinnend, die Augen am Boden, die Gedanken in den Wolken.
Eines Abends erreichte er nach zweitägigem Aufstieg den höchsten Paß, den er bisher erklommen hatte, und stand nun plötzlich vor einer Kette von Schneegipfeln, die wie ein Gürtel den Horizont umschlossen – Berge von fünfzehn» bis zwanzigtausend Fuß Höhe schienen so nahe, als könnte man sie mit einem Steinwurf erreichen, und waren doch fünfzig bis sechzig Meilen entfernt. Die Paßhöhe war bedeckt mit dunklem dichtem Wald – Deoda, Walnuß, wilder Kirsche, wilder Olive und wilden Birnbäumen –, aber zumeist mit Deoda, das ist die Himalaja-Zeder; und im Schatten der Deodazedern stand ein verlassener Schrein der Kali – das ist Durga oder Sitala, die manchmal gegen die Blattern angerufen wird.
Purun Daß fegte den Steinboden sauber, lächelte der grinsenden Gottheit zu, baute sich im Hintergründe des Schreins eine kleine Feuerstelle aus Lehm, breitete sein Antilopenfell über ein Lager von frischen Fichtenreisern, schob den Bairagi – die Stütze mit Messinggriff – in die Achselhöhle und setzte sich nieder, um zu ruhen.
Unmittelbar zu seinen Füßen fiel die Bergwand jäh ab, fünfzehnhundert Fuß tief bis zu einem kleinen Dorf mit Häusern aus Steinmauern und gestampften Erddächern, die am steilen Hange klebten. Rund um das Dorf lagen in winzige Terrassen geteilte Felder, die wie eine Schürze aus Flickwerk die Knie des Berges bedeckten, und Kühe, nicht größer als Käfer, weideten zwischen den glatten Steinen der kreisförmigen Dreschtennen.