Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling

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Rudyard Kipling - Gesammelte Werke - Rudyard Kipling

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gab es?« fragte Mogli und warf sich rasch auf die Seite. »Nein, kein Wild, ich würde mir alle Zähne daran ausgebrochen haben. Aber die Weiße Haube raunte, daß ein Mensch – sie schien die Brut gut zu kennen –, daß ein Mensch den Atem unter seinen Rippen hergeben würde, wenn er nur diese Dinge erschauen könnte.«

      »Wir wollen nachsehen«, sagte Mogli. »Einst war ich ein Mensch, entsinne ich mich.«

      »Gemach – gemach! Hast tötete die gelbe Schlange, die den Sonnenball fraß. Tief unter der Erde redeten wir zwei miteinander, und ich sprach auch von dir, nannte dich einen Menschen. Da sagte die Weiße Haube (wahrlich so alt ist sie wie die Dschungel selbst): ›Lange schon ist es her, seit ich Menschen sah. Laß ihn kommen, auf daß er sehe alle diese Dinge, für deren geringstes viele Menschen ihr Leben hingeben würden.‹«

      »Das muß neues Wild sein. Dennoch, die Giftvölker melden uns nie, wenn neues Wild zu spüren ist. Ungefällig sind sie.«

      »Es ist kein Wild. Es ist – es ist – ich kann nicht sagen, was es ist.«

      »Laß uns hingehen. Noch nie erblickte ich eine Weiße Haube. Und auch die anderen Dinge möchte ich sehen. Hat sie die alle getötet?«

      »Es sind alles tote Dinge. Sie sagt, sie sei der Wächter über sie alle.«

      »Aha! So wie der Wolf über dem Fleisch steht, das er in sein Lager verschleppt hat. Gehen wir!«

      Mogli schwamm zum Ufer, rollte sich im Grase, um sich zu trocknen; und beide machten sich auf den Weg nach »Cold Lairs«, der verlassenen Stadt, von der ihr schon vernommen habt. Damals fürchtete sich Mogli nicht im geringsten mehr vor dem Affenvolk, wohl aber packte die Affen Entsetzen, wenn Mogli erschien. In jener Nacht trieben sich die Affenherden gerade in der Dschungel umher, so lag »Cold Lairs« verlassen und schweigend im Mondlicht. Kaa führte die Terrassen hinauf zu den Ruinen des Sommerhauses der Königin, schlüpfte über das Geröll und glitt die halb verschüttete Treppe hinab, die von der Mitte des Pavillons in die Erde führte. Mogli gab den Schlangenruf: »Wir sind vom gleichen Blute, du und ich!« und ging ihr nach, auf Händen und Knien kriechend. Lange folgten sie dem schrägen Gang, der in Windungen abwärts führte, und kamen zuletzt an ein gähnendes Loch im Mauerwerk, gesprengt von den knorrigen Wurzeln eines Baumriesen, um dessen Wipfel, dreißig Fuß über ihnen, der Nachtwind pfiff. Sie zwängten sich durch das Loch und gelangten dann in eine weite, gruftartige Höhlung, deren gewölbte Decke ebenfalls von Baumwurzeln gesprengt war, so daß bläuliche Streifen des Mondlichts die Dunkelheit ein wenig erhellten.

      »Ein sicheres Lager das«, sagte Mogli und richtete den sehnigen Körper auf, »nur zu weit ab, um täglich einzufahren. Nun, was gibt es hier zu sehen?«

      »Bin ich nichts?« fragte eine Stimme in der Mitte der Gruft. Und Mogli sah etwas Weißliches sich bewegen. Langsam, ganz langsam richtete sich die ungeheuerste Kobra vor ihm auf, die er je gesehen hatte, beinahe acht Fuß lang und durch die ewige Dunkelheit zu elfenbeinernem Weiß verblichen. Selbst die Brillenzeichnung auf der gespreizten Haube war zu mattem Gelb verblaßt. Ihre Augen leuchteten rubinrot, und höchst wundersam war sie anzuschauen.

      »Gute Jagd!« rief Mogli, den seine Höflichkeit so wenig wie sein Messer je verließ.

      »Was Neues von der Stadt?« zischelte die weiße Kobra, ohne des Grußes zu achten. »Was Neues von der mächtigen, mauerumwallten Stadt – Stadt der hundert Elefanten, der zwanzigtausend Rosse und zahllosen Rinder –, dem Herrschersitze des Königs über zwanzig Könige? Taub werde ich hier, und schon lange ist es her, seit ich die Schlachtengongs vernahm.«

      »Die Dschungel breitet sich über unseren Köpfen«, antwortete Mogli. »Von Elefanten kenne ich nur Hathi und seine Söhne. Baghira zerriß alle Pferde im Dorf; und – was ist ein König?«

      »Ich sagte dir«, sprach Kaa sanft zu der Kobra, »ich sagte dir schon vor drei Monden, deine Stadt stünde nicht mehr.«

      »Die Stadt – die machtvolle Feste im Walde, deren Tore beschirmt sind von den Türmen des Königs –, sie kann niemals vergehen. Gebaut wurde sie, bevor meines Vaters Vater aus dem Ei kroch, und bestehen wird sie noch, wenn meines Sohnes Söhne weiß sind wie ich. Salomdhi, Sohn des Tschandrabija, Sohn des Viyeja, Sohn des Yegasuri, schuf sie, die leuchtende Stadt in den Tagen von Bappa Rawal. Wessen Vieh seid ihr?«

      »Eine verlorene Fährte ist es«, sagte Mogli zu Kaa. »Ich verstehe ihre Rede nicht.«

      »Ich auch nicht. Sehr alt ist sie – Urahn der Kobras, nur die Dschungel ist hier und war es von Anbeginn an.«

      »Wer aber ist er«, forschte die weiße Kobra, »der da vor mir sich niedersetzt, der ohne Angst ist, den Namen des Königs nicht kennt und unsere Sprache spricht mit Menschenlippen? Wer ist der mit dem Messer und der Schlangenzunge?«

      »Mogli nennt man mich«, war die Antwort. »Von der Dschungel bin ich. Die Wölfe sind mein Volk, und Kaa hier ist mein Bruder. Ahn der Kobras, wer bist du?«

      »Ich bin der Wächter der Schätze des Königs. Kurrun Radscha baute den Stein über mir in den Tagen, da meine Haut dunkel war, auf daß ich Tod bringe über alle, die kommen, um zu rauben. Dann senkten sie den Schatz durch die Steinplatte hernieder, und ich hörte den Gesang der Brahmanen, meiner Meister.«

      »Hm«, brummte Mogli vor sich hin. »Mit einem Brahmanen habe ich schon einmal zu tun gehabt bei dem Menschenvolk – ich weiß, was ich weiß: Böses wird auch hier bald kommen.«

      »Seitdem sitze ich zur Wacht. Fünfmal wurde der Stein gehoben, immer um noch mehr und mehr zu versenken, nie, um etwas fortzunehmen. Keine Schätze in der Welt gleichen diesen – den Schätzen von Hunderten von Königen. Aber lange, lange ist es her, seit der Stein zum letztenmal gehoben ward, ich glaube, daß meine Stadt mich vergaß.«

      »Es ist keine Stadt da!« rief Kaa. »Schau hinauf. Wurzeln uralter Bäume spalten die Steine. Bäume und Menschen wachsen und wuchern nicht an ein und demselben Ort.«

      »Zweimal, dreimal haben Menschen den Weg hierher gefunden«, antwortete grimmig die weiße Kobra, »aber sie sprachen nicht – bis ich über sie kam, sie im Dunkeln umklammernd, und dann wimmerten sie nur kurz. Aber ihr beide, Mensch und Schlange, kommt mit Lügen und wollt mich glauben machen, daß meine Stadt nicht mehr steht und meine Wacht zu Ende geht.

      Die Menschen ändern sich wenig im Lauf der Zeiten. Aber ich, ich ändere mich nie. Bis der Stein hinweggenommen wird, bis die Brahmanen herabsteigen und die Gesänge singen, die ich kenne, mich füttern mit warmer Milch und mich hinauftragen ans Tageslicht – so lange halte ich hier – ich – ich – ich und kein anderer die Wacht bei dem Horte des Königs. Tot ist die Stadt, sagt ihr, und Wurzeln sprengen die Gruft! Gut, so bückt euch denn und nehmt, was ihr begehrt. Die Erde birgt keine größeren Schätze als diese. Mensch mit der Zunge der Schlangen, wenn du lebend den Weg zurückwanderst, den du gekommen bist, dann werden Könige deine Diener sein.«

      »Wieder ist die Fährte verloren«, sagte Mogli kühl. »Sollte doch etwa ein Schakal so tief unter die Erde gewühlt und die Weiße Haube gebissen haben? Sicherlich redet sie irre. Ahn der Kobras, nichts sehe ich hier, was ich mit mir nehmen könnte.«

      »Bei den Göttern von Sonne und Mond«, zischte die Kobra, »Todeswahnsinn ist über dem Knaben. Bevor deine Augen für immer sich schließen, will ich dir Gnade erweisen. Blicke hin und erschaue, was vor dir Menschen niemals erschauten.«

      »Wer in der Dschungel zu Mogli von Gnade reden wollte, mit dem würde es schlecht stehen«, stieß der Knabe zwischen den Zähnen hervor. »Aber die Dunkelheit ändert alles, ich weiß wohl.

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