Nachtmahre. Christian Friedrich Schultze
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„Da muss ich mich ein bisschen wundern, dass sich dein Gott einen so unvollkommenen Partner geschaffen hat. Es hätte das Risiko doch von vornherein erkennen müssen, das in der uns übertragenen Freiheit liegt. Meinst du nicht, dass er sich nur ein Spiel gemacht hat, das in einem grandiosen Inferno sein Ende finden wird?“
Es entstand ein kurzes, intensives Schweigen. Ich spürte, dass ich ihn jetzt getroffen hatte.
„Habe ich denn behauptet, dass ein Christ wirklich mehr weiß als andere? Dass er frei ist von Zweifeln und Anfechtungen? Ich frage mich genauso unentwegt, wieso der Mensch dermaßen unfähig ist, sich die Erde in einem ganz positiven Sinne untertan zu machen. Das ist das schlimme Dilemma eines gewissenhaften Christenmenschen: Bin ich wirklich unfähig, den mir übergebenen Laden in Ordnung zu halten oder scheint es nur so? Bin ich selbst nicht in der Lage, mir das ewige Leben zu verdienen? Wieso bin ich auf die Gnade des HERRN angewiesen, an dieser Ungereimtheit nicht zu verzweifeln?
Das ist die Scheidelinie zwischen Erkennen und Glauben, das ist genau das, was verstandesmäßig nicht zu gewinnen ist. Da hören alle Erklärungen auf.“
„Was willst du mir damit sagen, mein Freund? Denn dann hast du`s ja auch nicht besser als einer, der das nicht glaubt. Dazu könnte ich mich jedenfalls nicht bekennen: wissen, wie unvollkommen ich bin und mich auf jemanden verlassen müssen, von dem ich nicht genau weiß, ob es ihn überhaupt gibt. Da wundert es einen nicht, wenn viele selbst Gott sein wollen. Dieser Widerspruch verführt ja geradezu, alle Macht der Welt zu erstreben: Es gibt Zeiten, da hält man`s dann mit dem Teufel.“
“Wenn ich aber ewig leben will, bleibt mir, vereinfacht ausgedrückt, keine andere Hoffnung als die von der Wiederkunft Jesu Christi zusammen mit der Pflicht, das Gesetz zu erfüllen. Dann fühle ich wieder, dass es gut ist, einen Gott zu haben, dem man für sein Leben verantwortlich ist und dass es Gebote gibt, die nicht dazu aufrufen, der Macht zu dienen, sondern der Liebe.“
„Gegen das Liebesgebot habe ich überhaupt nichts einzuwenden“, sagte ich.
„Dann tu`s doch. Lieb dich und dann die anderen mehr als dich selbst. Das ist die einzige Legitimation, um überhaupt irgendwo einzugreifen. Mir scheint jedoch, du liebst dich nicht, deshalb rennst du andauernd im Kreise.“
„Das kann man leicht sagen von einem anderen.“
„Mein Lieber, wo du dich befindest, in welcher Gesellschaft, in welchem System, ist doch vollkommen gleichgültig. Als was für einer du dich darinnen wiederfindest, allein darauf kommt es an.“
„Ich bezweifle nicht einmal, dass das sehr klug ist, was du sagst. Aber wenn das Problem wirklich darin besteht, dass ich mich so lieben muss, wie ich bin, ich es jedoch noch nicht schaffe, dann kann ich es ebensogut mal in einer anderen Gegend probieren. Vielleicht fällt es mir dort sogar leichter.“
„Da du es an dem nötigen Ernst mangeln lässt, fasse ich meine beiden Hauptargumente für dich leichtverständlich zusammen: Erstens rührt deine Unsicherheit von deiner wankenden weltanschaulichen Basis, die nun nicht mehr ausreicht, die Wirklichkeit zu verstehen. Zweitens bin ich ganz entschieden davon überzeugt, dass dich eine Trennung von deinen menschlichen und heimatlichen Bindungen noch weniger zu dir selbst führen würde.“
„Wirklich erstaunlich, wie einfach alles ist“, sagte ich mit einem bitteren Unterton. „Was weiß ich, was hier alles zusammenkommt. Meine Abenteuerlust, der Drang, aus dem Gleichmaß, das vor allem Mittelmaß ist, heraus zu gelangen und mal was Großes zu machen, etwas, wovon man wieder leben kann. Vielleicht wollte man es gar nicht, wenn es einem nicht durch eine Reihe lächerlicher Gesetze und Vorschriften verboten wäre.“
„Vielleicht ist es tatsächlich eine Charakterfrage“, erwiderte Thomas. „Vielleicht bin ich mehr ein Ackerbauer und du ein Nomade.“
Der Abstieg hatte uns an der Skihütte und an der ehemaligen Sprungschanze vorbei weiter über die Wiesen, die im Winter als Skigelände genutzt werden, hinunter geführt. Die Masten des Schleppliftes standen finster, verlassen und untätig am Berg.
Wir wandten uns nach links zur Nordostrinne und kamen bald am Haus Nummer 175 vorbei, das einsam am Waldessaum liegt und das stets mein besonderes Interesse hervorruft, weil ich gern wüsste, wie die Leute darinnen leben. Einmal klopfe ich noch an diese Haustür.
Jetzt war alles dunkel im Haus.
Über den ausdrücklich so bezeichneten Privatweg kamen wir endlich auf die Dorfstraße. Der große Wagen war bereits ein gutes Drittel um den Polarstern herum gewandert.
Über dem Pass zum Sonneberg hin, genau an der Stelle, wo nach wochenlangem Biwakieren in den Wäldern 1968 die russischen Panzer, Lastkraftwagen und motorisierten Schützen der miteinander auf EWIG verbündeten Volksarmeen in die Tschechoslowakei einbrachen, um den von Millionen Menschen mit Hoffnung begrüßten Prager Frühling niederzuwalzen, war die schmale Sichel des Mondes hervorgetreten. Dieser Naturvorgang fand statt, mit Zuverlässigkeit, nach wie vor.
Wir schwiegen. Für heute schien alles gesagt. Unser Gespräch hatte ein gutes, wenn auch offenes Ende gefunden. Es hatte Antworten gegeben und weitere Fragen. Nichts war endgültig, nichts stand fest. Besonders heutzutage...
Und wer da behauptete, Unwiderrufliches über Fragen wie Liebe, Leben, Tod, Macht, Glück, Leid, Raum, Zeit oder Ewigkeit zu wissen, war entweder ein Dummkopf oder ein Verführer. Das hatten wir bereits vorher gewusst.
2.
Es ist schwer, einen neuen Blickwinkel für sich selbst zu finden, selbst wenn man es wirklich will. An dem, was du dir im Verlaufe deines Lebens mühsam an Wissen und Erfahrung erworben hast, hängst du eben und lässt es nicht gern in Frage stellen, selbst wenn es sich herausgestellt hat, dass es falsch ist und du es im Grunde auch bereits weißt Die Macht der Gewohnheit ist so stark. Und es kann manchmal geradezu tödlich sein zuzugeben, dass man sich für einen Irrtum geopfert hat.
Mir war also klar geworden, dass es nicht allein die philosophischen oder gesellschaftlichen Fragestellungen waren, die mich zu einem Entschluss drängten. Oder die persönlichen Probleme, in die ich mich manövriert hatte.
Es lag in mir, da hatte Thomas völlig recht. Nur, dies zu wissen, brachte mich auch nicht recht weiter. Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, dachte ich an jenem Abend resigniert. Irgendwoher würde vielleicht ein Anstoß kommen.
Sicher gewöhnt man sich dran, dass einen ihre LEHRE auf Schritt und Tritt verfolgt, einen täglich aus Rundfunk, Fernsehen und Presse anspringt. Eigentlich müssten nach fünfunddreißig Jahren Einerlei alle gleichmäßig ausgerichtet sein, müsste jeder nach diesem Glauben problemlos leben können. Denn nun ist klar, dass es sich bei den uns verwirrenden Erscheinungen nicht um antagonistische Widersprüche handelt. Unsere Dialektik erlaubt es uns sogar, die überall wie Pilze emporschießenden Übel als für die Entwicklung notwendige Widersprüche zu kennzeichnen.
Aber merkwürdig, das Volk verschließt sich mehr und mehr. Es ist nicht wahr, dass man die Masse ideologisch manipulieren kann, wenn sie für die neue LEHRE nicht offen ist. Wenn nicht geglaubt wird, entsteht keine Woge. Im Gegenteil, irgendwann verkehrt sich plötzlich alles.
Es setzt sich zusammen aus einem Mosaik von tausenden Kleinigkeiten, die so vielschichtig und verflochten wirken, dass man daran zweifeln