Ein Anfang am Ende des Hungers. Sylvia Baumgarten
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Ich les weiter: Symptome sind z. B. Hyperaktivität, ständiges Kreisen der Gedanken um Nahrung und Gewicht und starke Angst vor Gewichtszunahme – ist doch logisch, denk ich, wenn ich mich monatelang abgezappelt hab, will ich auf keinen Fall wieder zunehmen, da mach ich halt ein bisschen mehr Sport. Trotzdem wird mir beim Lesen ziemlich mulmig – lebensbedrohliche Erkrankung, Herzrhythmusstörungen, Niereninsuffizienz – mag ja sein, aber bestimmt nur dann, wenn man die Kontrolle verliert und das passiert mir sicher nicht.
Eigentlich will ich die Seite sofort schließen, doch dann lande ich wieder auf der Homepage. Rechts am Rand ist ein Link, wo man sich anmelden kann. Ich klick drauf, ein Fenster öffnet sich und ohne, dass ich es großartig verhindern kann, meld ich mich im Forum an. Ich geb meine Mailadresse ein, entscheide, dass sie in meinem Profil erscheinen darf, überleg mir einen Nick und ein Passwort, geh auf senden und krieg ne Nachricht, dass sie mir eine Mail schicken, die ich bestätigen muss, und dann bin ich Mitglied.
Ich schließ die Seite. Auf meinem Desktop erscheint der Wasserfall und ich frag mich, was ich da gerade getan habe. Am besten geh ich mal ne Runde laufen, dabei krieg ich super den Kopf frei.
Ich drück mich vom Schreibtisch ab und roll mit dem Stuhl nach hinten. Mein Desktop ist inzwischen schwarz – nur das Windows-Logo taucht abwechselnd in den Ecken auf.
Ich geh zu meinem Schrank, mach die Schublade mit den Sportklamotten auf und zieh mein Shirt und meine Laufhose an. Die Hose rutscht mir sofort über die Hüften. Ich raff sie mit der Kordel zusammen – die vielen Falten scheuern auf meiner Haut. Das Teil brauch ich mal ne Nummer kleiner, denk ich. Auch den Gurt mit der Handytasche für meinen Oberarm muss ich wieder ein Stück enger machen. Egal. Ich greif mir mein Handy, schieb es in die Halterung und geh aus dem Zimmer.
In der Haustür treff ich meine Mum.
„Hallo Jule“, sagt sie, „ich wollte gerade Pizza aus dem Gefrierschrank holen. Ist ein bisschen spät geworden.“
Mal wieder, denk ich, und sag:
„Macht nichts, hab schon gegessen.“
„Schade“, sagt meine Mum, aber ich glaub nicht, dass sie das auch so meint. Nach einem Tag voller Interviews, Reportagen und Recherchen am Rechner ist sie abends total platt und hat keinen Bock mehr auf Reden.
Ich steck mir die Kopfhörer in die Ohren und lauf los. Eigentlich will ich nur ne kleine Runde, aber dann kann ich wieder nicht aufhören. Ich lauf und lauf und immer wieder taucht der Text von der „hungrig-website“ vor mir auf. „Hyperaktivität“ – nur weil man gerne Sport treibt, ist man noch lange nicht „hyperaktiv“ – und wer Sport treibt, bleibt nun mal schlank – was hat das bitte mit Magersucht zu tun?
Ich muss kurz stehen bleiben, weil die verdammte Hose schon wieder rutscht und die Musik total nervt. Ich nehm die Kopfhörer raus und lauf weiter und weiter.
Ob die Bestätigungsmail von der „hungrig-website“ schon da ist?, überleg ich und erwisch mich dabei, dass ich auf einmal echt interessiert bin, was die User in den Foren schreiben.
Wie ferngesteuert lauf ich zurück. Zum Schluss noch ein Sprint, dehnen und dann ab unter die Dusche.
Als ich zur Tür reinkomm, sitzt meine Mum im Wohnzimmer und telefoniert – vermutlich mit meiner Tante – mit der hat sie dann plötzlich doch Bock auf Reden … Egal, soll sie doch.
Ich lauf die Treppe hoch, dusch mich schnell, zieh mir bequeme Klamotten an und verschwinde in meinem Zimmer.
Der Desktop ist jetzt schwarz, aber der Rechner brummt leise vor sich hin. Ich beweg kurz die Maus, sofort ist der Wasserfall zu sehen, dann zwei Klicks – Mailaccount – Posteingang – und da ist sie schon, die „hungrig-website“-Mail. Als ich sie öffne, zittert meine Hand. Ich klick auf den Link zum Anmelden – Benutzername – Passwort, dann bin ich drin.
Ich überfliege die einzelnen Foren. Von „Neu hier“ bis „Gesund!!!“. In manchen Foren ist richtig was los, in anderen ist niemand. Während ich mich auf der Seite umschaue, frag ich mich wieder, was ich hier eigentlich mache und bin total genervt, dass mir die Kramer den Zettel gegeben hat. Trotzdem klick ich „Bin ich magersüchtig? – Anzeichen, Symptome“ an und les den aktuellsten Beitrag.
„ … habe gerade festgestellt, dass Roibuschtee Kalorien enthält und hatte sofort eine Panikattacke … trinke nur noch eiskaltes Wasser, weil das mehr Kalorien verbrauchen soll, xxx % Fett in Magerjoghurt sind für mich eine Katastrophe … wiege nur noch xxx Kilogramm und kann nicht mehr mit dem Hungern aufhören – außerdem ist mir dauernd kalt. Ist das Magersucht?“ Da wo scheinbar mal Zahlen gestanden haben, steht jetzt „xxx“ – zensiert vom Moderator des Forums:
„Bitte keine Zahlen nennen, das könnte die übrigen User zum Nachahmen reizen und sie unter Druck setzen.“ steht unter dem Text.
Wie bescheuert ist das denn?, denk ich, aber dann fällt mir ein, dass ich ziemlich sauer reagiere, wenn jemand weniger isst als ich oder auch gerade ne Diät macht und richtig viel abgenommen hat – meistens versuch ich dann, noch weniger zu essen.
Ich bin so vertieft in die Seite, dass ich vor Schreck zusammenzucke, als mich plötzlich meine Mum anspricht:
„Sorry, Jule, ich wollte dich nicht erschrecken. Aber du hast mein Klopfen wohl nicht gehört.“
Blitzschnell leg ich die Seite in der Leiste ab. Ob sie was gesehen hat?
Ich dreh mich mit dem Stuhl zu ihr um.
„Schon gut“, sag ich und frag mich, was sie von mir will – irgendwie klingt ihre Stimme anders.
Meine Mum schaut sich im Zimmer um. Auf meinem Sessel liegen Klamotten. Sie nimmt sie runter, legt sie aufs Bett und setzt sich.
Was wird das jetzt?, denk ich, und warte.
Sie druckst erst ein bisschen rum, und dann sagt sie:
„Meinst du nicht, dass du deine Diät übertreibst? Du siehst schrecklich mager aus. Findet Elke auch.“
Was geht das meine Tante an?, denk ich, sag aber erstmal nichts. Meine Mum sagt auch nichts – wahrscheinlich hat Tante Elke sie geschickt – das wär mal wieder typisch, die Frau muss sich überall einmischen. Überhaupt – was ist hier eigentlich los? Erst macht die Kramer Stress und nun meine Mutter.
Scheinbar fühlt sich meine Mum auch nicht besonders wohl in ihrer Haut.
„Also, ich würde es besser finden, wenn du jetzt aufhörst mit dem Hungern und wieder vernünftig isst. Guck mal, wir haben doch die Mikrowelle und im Gefrierschrank sind lauter leckere Sachen, da könntest du dir nach der Schule gleich was warm machen.“
Klar, denk ich, im Gefrierschrank – zum Kochen hat hier ja niemand Zeit. Am liebsten würd ich ihr ins Gesicht sagen, dass es ihr sonst auch egal ist, was ich mache, weil sie nur ihre Arbeit im Kopf hat. Aber dann kommt wieder die Nummer mit „schließlich muss ich uns zwei alleine durchbringen“ – und das muss ich gerade überhaupt nicht haben, darum versuch ich zu lächeln und sag:
„Ok, mach ich.“
„Bestimmt, Jule?“
„Klar, versprochen. Ab morgen ess ich wieder.“
Keine Ahnung, ob sie mir glaubt.