Vom Kap zum Kilimandscharo. Ludwig Witzani
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Die holländische Landnahme am Kap ist oft mit anderen europäischen Kolonisationsbewegungen verglichen worden. In den nordamerikanischen Neuenglandstaaten hatten es die Briten von Anfang an auf die Ansiedlung und Inbesitznahme neuer Gebiete durch Massenansiedlung abgesehen. Dieses Projekt führte langfristig zur faktischen Vernichtung der Ureinwohner. In Brasilien hieß das Modell Vermischung – Portugiesen, Spanier, Holländer, Schwarzafrikaner und Indios vermischten sich in einem jahrhundertelangen Prozess im Melting Pot der brasilianischen Nation. In Südafrika war es eine Landnahme per Separation. Die Weißafrikaner und Schwarzafrikaner vermischten sich nicht sondern separierten sich zu einer in zwei große Ethnien gespaltenen Bevölkerung.
Ich setzte mich auf einen Felsvorsprung und blickte über Stadt und Bucht. Es war Nachmittag geworden. und die Konturen des tief unter mir liegenden Kapstadts traten schärfer hervor. Wo war das historische Zentrum der Stadt? Mit dem Fernrohr suchte ich die Straßenzüge ab, identifizierte die City Hall, den Botanischen Garten, das Parlament und schließlich das Castle of Good Hope, den städtebaulichen Ursprung der Stadt. Es waren winzige Reste einer langen Geschichte, die im Betonmeer der neuesten Zeit kaum noch erkennbar waren. *
Auch aus der Nähe betrachtet war das Castle of Good Hope nichts weiter als eine kleine Festung, die anfangs nur die Grenzen der holländischen Niederlassung markiert hatte. Als die Beziehungen zu den Khoisan schlechter geworden, waren, hatte man Mauern und Schießschächte hinzugefügt. Trotzdem war das Fort eine verhältnismäßig kleine Anlage geblieben, eine Art Bonsai-Festung, die niemals einem ernsthaften Angriff standhalten musste. Ohne einen Kanonenschuss war die Festung im Jahre 1795 in die Hand der Briten gefallen, die die Kapkolonie von den Holländern übernahmen. Fast genau zweihundert Jahre später, als Nelson Mandela nach seiner Freilassung im Februar 1990 vor Hunderttausenden Schwarzafrikanern seine erste Rede vom Balkon der benachbarten City Hall hielt, hatten weiße Soldaten auf den begrünten Mauern des Forts gestanden und den Anbruch einer neuen Zeit beobachtet. Vier Jahre später, nach den ersten freien Wahl in Südafrika, war der Machtwechsel am Kap durch die Schlüsselübergabe des Castles of Good Hope an die neue Mandela-Regierung symbolisch vollzogen worden. Damit war die kleine Festung an das Ende ihrer aktiven Geschichte angekommen und verwandelte sich folgerichtig in ein Museum.
Ob man die Gebrauchsgegenstände, Dokumente, Zeichnungen und Karten, die das Museum präsentierte, wirklich gesehen haben musste, wollte ich nicht beurteilen. Beeindruckend aber war die Anlage als solche, der Hof, das Tor, die niedrigen Wälle, auf denen das Gras der Geschichtslosigkeit wuchs - ein Memento mori der Vergänglichkeit, um die eine Millionenstadt herumgewachsen war.
Nur wenige Gehminuten vom Castle of Good Hope entfernt befand sich die zweite Keimzelle der Stadt, "The Company´s Garden". Es handelte sich um jenen Ort, an dem sich die Holländer zuerst mit dem Anbau von Gurken, Tomaten, Karotten und Spinat versucht hatten, um die holländischen Seeleute auf der Durchreise mit einer gesunden Kost zu versorgen. Nur mit dem Weinanbau hatte es in "The Company´s Garden" nicht klappen wollen. Was die Vögel von den Trauben übriggelassen hatten, soll derart nach Essig geschmeckt haben, dass die Matrosen den Kapstädter Fusel in den Indischen Ozean kippten. Erst mit der Ankunft der Hugenotten am Ende des Siebzehnten Jahrhunderts sollte die Etablierung des Weinanbaus in Constantia, Stellenbosch und Franshoek gelingen.
Heute war „The Company´s Garden“ der Botanische Garten der Stadt, ein weiträumiger Erholungspark, in dem sich die Capetonians, ob schwarz oder weiß, an Springbrunnen, schattigen Bänken und einem Querschnitt der südafrikanischen Vegetation erfreuen könnten – wenn sie nur Zeit hätten und darauf achten würden, vor Einbruch der Dunkelheit das Weite zu suchen.
Die Skulpturen, die die Parkwege und kleinen Plätze säumten, wirkten in ihrer Beliebigkeit wie eine Bekräftigung dafür, dass die Entstehungsgeschichte Kapstadts langsam im Halbdunkel der historischen Vergesslichkeit verschwand. Nur für das Standbild des Briten Cecil Rhodes galt das nicht. Stolz, überlebensgroß und gerade stand das Abbild des in Wahrheit kränklichen Mannes auf einem Podest im Botanischen Garten und wies mit dem rechten Arm nach Norden. Vom „Kap bis Kairo“ sollte sich das Britische Empire erstrecken, und zur Verwirklichung dieses Zieles war Cecil Rhodes jedes Mittel recht gewesen. Als zeitweiliger Premierminister der britischen Kapprovinz und Miteigentümer des Diamantenmonopolisten de Beers war er zum Todfeind der freien Burenstaaten geworden, die den Briten durch ihre bloße Existenz am Ende des 19. Jahrhunderts die Ausdehnung nach Norden versperrten. An der Vorbereitung des Großen Burenkrieges und der Unterwerfung der Matabele und Shona im heutigen Simbabwe war er ebenso beteiligt gewesen wie an der Ausbeutung der schwarzafrikanischen Arbeiterschaft in den Diamantenminen. Dass sein Denkmal überhaupt noch im Botanischen Garten von Kapstadt stand, war Nelson Mandela zu verdanken, der verkündet hatte, man müsse auch von den Fehlern großer Männer lernen.
Hundert Jahre nach Cecil Rhodes Tod war die Zeit über ihn hinweggegangen. Die nach ihm benannten Kolonien Nord- und Südrhodesien waren als Sambia und Simbabwe längst eigene Staaten geworden. Und auch in Kapstadt war vom berühmt-berüchtigten Premierministers der Kapprovinz nichts weiter geblieben als eine rege Population graubrauner Eichhörnchen, die Rhodes von Europa nach Kapstadt gebracht hatte und die sich heute von den Touristen in "The Garden" durchfüttern ließen.
Während meiner Spaziergänge durch den Botanischen Garten lag eine eigenartige Leere über dem Park Zeitweise kam es mir so vor, als befände ich mich wie schon im Castle of Good Hope in einem verwunschenen Garten, in einem Stück eigener Wirklichkeit, das mit dem realen Leben der Menschen dieser Stadt nichts mehr zu tun hatte. Ich hörte das Knacken der Zweige, das Rascheln im Gras, Vogelgezwitscher in den Bäumen, vermischt mit dem entfernten Rauschen der Stadt. Dann wurde ich müde, legte mich auf die Wiese und schlief ein.
Ich erwachte, als ein Kind versuchte, mir die meine Kameratasche unter dem Kopf wegzuziehen. Ich hatte mir die Schlaufe vorsichtshalber um den Hals gewunden, so dass der Versuch misslang. Trotzdem dauerte es einige Sekunden, ehe ich begriff, was geschah. Der Junge, ein mageres Bürschchen mit kurzer Hose und zerrissenem Shirt, war genauso erschrocken wie ich, als ich die Augen öffnete. Sofort ließ er den Gurt los und verschwand wie der Blitz im Unterholz. Warum hatte er mich nicht nach etwas Geld gefragt, ich hätte es ihm freiwillig gegeben.
Als ich ins Hotel zurückkam, entnahm ich den Schlagzeilen der ausliegenden Tageszeitungen, dass am Signal Hill zwei Überfälle stattgefunden hatten. Eine Touristengruppe war von einer Horde Jugendlicher umzingelt und gezwungen worden, ihre Wertsachen herauszurücken. In der Nähe des Western Boulevards war ein Anwohner bei einem Einbruch erschossen worden.
Beim Abendessen im Hotelrestaurant trug niemand eine Kappe. Ich kam mit einem deutschen Geschäftsmann ins Gespräch, der sich im Auftrag einer Baufirma in Kapstadt aufhielt. Er stellte ich als Wilfried vor, war leger gekleidet und verfügte über einen gesegneten Appetit. Er aß eine Suppe, ein Straußensteak mit Beilage samt Nachtisch und trank eine ganze Flasche Chardonnay, ehe er die nächste Flasche Wein bestellte und mich zu einem Glas einlud.
Er fragte mich nach meinen Reiseplänen, hörte aber kaum zu und begann seinerseits von seinen Reisen zu erzählen. Wie es aussah, saß ich mit einem Afrikakenner am Tisch, der geschäftlich sehr weit herumgekommen war. Wilfried war ein Freund des „schwarzen Kontinents“, aber mit der Richtung, die dieser Kontinent nahm, nicht einverstanden. Das galt sowohl für die allgemeine Entwicklung, die der afrikanische Süden eingeschlagen hatte, wie auch für die konkreten Missgeschicke die Wilfried widerfahren waren. Der Taxifahrer hatte ihn übers Ohr gehauen, ein herbeigerufener Polizist hatte sich als unkooperativ erwiesen, und außerdem war ihm sein Hotelzimmer viel zu laut.