Vom Kap zum Kilimandscharo. Ludwig Witzani
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Der Ort Muizenburg, den ich nach einer schweißtreibenden Fahrt erreichte, glich einem überfüllten Hollanddorf mit brachialer Musikbeschallung in seiner Strandzone. Es war Sonntag in Südafrika, und jede Menge Ausflügler verstopften die Durchgangsstraßen.
Jenseits von Muizenburg ließ das Verkehrsaufkommen abrupt nach. Wieder einer jener Landschafts- und Stimmungswechsel, an denen Südafrika so reich ist. Plötzlich bestimmten weitgeschwungene Dünenstrände das Bild, ein endlose Reihe feiner weißer Sandhügel vor dem Horizont des Meeres. Ich hatte die False Bay, die „falsche Bucht“ erreicht. Sie hatte ihren Namen erhalten, weil in den Frühtagen der Kapkolonie immer wieder die Segler aus Asien die Bucht mit der Tafelbergbucht von Kapstadt verwechselt hatten. So abwertend der Name der Bucht war, so schön stellte sie sich dem Durchreisenden dar, eine weite großzügige Küstenlandschaft mit weißen Sandstränden, einer flachen Brandung und einer Vorahnung der warmen Luft, mit der der indische Ozean weiter östlich das Klima bestimmen würde. Doch das Schöne nistet in Afrika fast immer in der Nachbarschaft des Gefährlichen. Denn die False Bay war Jagdgebiet des Weißen Hais, des großen Killers der Meere, der alles fraß, was ihm vor das Maul kam und auch bei schwimmenden Menschen keine Ausnahme machte. Paradoxerweise war der Weiße Hai erst in der Bucht aufgetaucht, nachdem sich unter der Federführung engagierter Naturschützer große Robben- und Pinguinkolonien in der False Bay etabliert hatten. Immer wenn der Menschen in die Natur eingreift, geht etwas schief, auch dann, wenn es gut gemeint gewesen war. Das sollte ich in Afrika noch oft lernen müssen.
In Sommerset West am östlichen Ausgang der False Bay gab es keine besondere Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, wenn man einmal von der grandiosen Aussicht auf die Bucht absah. Weit im Westen verschwand die Kap Halbinsel im abendlichen Dunst, im Osten erglänzten die Abhänge der Hottentotten-Holland-Mountains im Licht der niedergehenden Sonne.
***
Ursprünglich war nur ein Bruchteil des weltweiten Pflanzenbestandes landwirtschaftlich nutzbar. Der frühe Mensch bewegte sich in einer Flora von 200.000 unterschiedlichen Wildpflanzen, mit der er kaum etwas anfangen konnte. Erst im Laufe der Entwicklungsgeschichte veränderte er das Gesicht der ihn umgebenden Natur. Die nutz-losen Pflanzen wurden reduziert, die Flächen, auf denen Nutzpflanzen wuchsen, nahmen zu. Heute sind es gerade mal einige Dutzend Nutzpflanzen, auf denen die menschliche Ernährung im Wesentlichen beruht. Jarred Diamond hat in seinen Büchern diesen Prozess der kulturellen Überformung der Natur eindringlich beschrieben (Arm und reich S. 137ff.). Es war nichts anderes als die Umwandlung undomestizierter Natur in einen großen Garten des Menschen.
Nirgendwo sonst in der Welt konnte man den ästhetischen Mehrwert, den diese kulturelle Überformung der Natur hervorbrachte, anschaulicher beobachten als in der südafrikanischen Weinprovinz. Schon lange bevor ich Stellenbosch, eines der drei Zentren der südafrikanischen Weinprovinz erreichte, war die Verwandlung der Landschaft unverkennbar. Als passierte ich ein afrikanisches Auenland zogen lieblich gewellte Hügel, Bewässerungsanlagen und kleine Gehöfte mit weißgekalkten Häusern vorüber. Afrikanisch waren nur der azurblaue Himmel und die Palmenhaine zwischen den Weingütern, der Rest war ein mixtum compositum europäischer Landschafts- und Siedlungsformen. Ich sah blauweiße, gelbweiße und knallweiße Hollandhäuser, zauberhafte kleine Kirchen mit verspielten Glockentürmen, gepflegte Parks, kleine Cafés und Hotels am Rande lauschiger Plätze. Kaum zu glauben, dass sich nur eine Autostunde westlich von Stellenbosch die Townships von Kapstadt befanden.
Das touristische und wirtschaftliche Herz von Stellenbosch schlug in der Dorpstraat. Hier präsentierten Dutzende von Winzern und Kooperative die Produkte, um die sich alles in Stellenbosch drehte: Chardonnay, Pinotage, Sauvignon Blanc, Shiraz, Cabernet Sauvignon und Merlot, die sogenannten „Big Six“ des südafrikanischen Weines, die als Rebsorten den weitaus größten Teil des südafrikanischen Weinexportes ausmachen.
Ich nahm ein Zimmer in einem kleinen Hotel in der Innenstadt, nicht billig aber sauber und ruhig, geführt von einer älteren Dame, die mich wie einen verirrten Wanderer aufnahm und mir zur Begrüßung eine Flasche Wein aufs Zimmer bringen ließ. Es war ein runder, vollmundiger Chardonnay mit einem samtenen Abgang und einer zarten Pfirsisch-Note, der mir so gut schmeckte, dass auf das erste Glas sogleich das zweite folgte und es nicht lange dauerte, bis die Flasche leer war. Danach spürte ich eine mächtige Woge der Müdigkeit in mir aufsteigen, verbunden mit einem allumfassenden Einverständnis mit der Welt, das ich als Grundgefühl mehr als alles andere liebe. Ich legte mich aufs Bett und schlief ein.
Am nächsten Morgen spazierte ich nach dem Frühstück durch die Stadt. Heute war der Eindruck der Unwirklichkeit möglicherweise noch stärker. Befand ich mich wirklich in Afrika oder in einer Kunststadt, einem fake, das man mit seinen bunt angemalten Häuserfassaden nach Afrika verpflanzt hatte. Wie ich im „Village Museum“ auf der Ryenefeld Straat aber lernen konnte, stimmte das nicht. Stellenbosch war die Heimat von Weißafrikanern, die schon seit Jahrhunderten am Kap ansässig waren und hier als Sprösslinge des Niederländischen, Niederdeutschen und Französischen ein Stück Europa weitab von ihrem Mutterkontinent errichtet hatten.
Die Geschichte dieser Weißafrikaner wurde in den großen restaurierten Hollandhäusern lebendig. Mit ihren dicken Wänden, offenen Kaminen, wuchtigen Balkenkonstruktionen und schweren Möbeln wirkten sie wie Symbole für die Beharrlichkeit des weißen Menschenschlags am Kap. Schon der zweite Gouverneur der Kapprovinz, der Holländer Simon van der Stel, hatte mit der Ausweitung der Kapkolonie und der Erkundung der Umgebung begonnen. Nicht einmal einhundert Kilometer östlich der Tafelbucht war er auf ein fruchtbares Tal gestoßen, in dem er Gemüse, Obst und Wein anbauen ließ und eine Stadt mit seinem Namen gründete – eben Stellenbosch, die zweitälteste Stadt des afrikanischen Südens. Die ersten Reben von Stellenbosch aber gediehen so schlecht, dass sie sogar von den räuberischen Affen verschmäht wurden, die sich jede Nacht über die Felder der Kolonisten hermachten. Erst die Einwanderung hugenottischer Winzer sollte den südafrikanischen Weinanbau professionalisieren, wenn auch niemand in den altvorderen tagen damit gerechnet hätte, dass südafrikanische Spitzenweine im 21. Jahrhundert Preise auf den Weinmessen der Welt gewinnen würden.
Im Sellenryk Weinmuseum an der Dorpstraat kam ich mit einem Angestellten des Weinmuseums ins Gespräch. Er hieß nicht nur Piet sondern sah auch noch aus wie ein waschechter Holländer mit flachsblonden Haaren, Sommersprossen und tiefliegenden schmalen Augen, die schon jede Menge guter und schlechter Weinernten gesehen hatten. Er erklärte mir geduldig die Funktion der alten Weinpressen, die verschiedenen Phasen der Flaschengärung und am Ende auch das Geheimnis des südafrikanischen Weins. „Der südafrikanische Wein ist so gut, weil er es nicht einfach hat“, begann er. Denn im Unterschied etwa zu den kalifornischen Weinen, die wegen des notorischen Wassermangels einer permanenten Tropfenbewässerung unterlägen und deswegen ihren Feuchtigkeitsbedarf jederzeit decken können, würde die südafrikanischen Spitzenweine prinzipiell nicht künstlich bewässert. Wenn der Regen einmal ausbliebe, müssten die Reben eben sehen, wie sie damit fertig würden. Die südafrikanischen Rebsorten erlebten also während ihrer Reifung viel mehr „Stress“ als andere Weine, so dass ihr Geschmack intensiver und individueller würde. Das Klima fordere den Wein, und das sei gut für ihn beendete er seine Darlegung. Ein wenig Stress schadet eben nicht, fügte er hinzu. „Weder beim Wein noch beim Menschen.“ Das leuchtete mir ein und ich erwarb zwei Chardonnay für die Weiterreise.
Nur eine dreiviertel Stunde dauerte die Fahrt von Stellenbosch nach Franshoek („Franzosenecke“), dem Zentrum der hugenottischen Traditionen im südlichen Afrika. Hier war die Außenansicht des Weinlandes womöglich noch spektakulärer als in Stellenbosch.