Die Flucht ohne Ende. Йозеф Рот

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Die Flucht ohne Ende - Йозеф Рот

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Besuch ein Fest mitfeiern muß. Es dauerte lange, ehe er sich daran gewöhnte, nicht zu zucken, wenn ihn seine Kameraden Genosse nannten. Er selbst nannte sie lieber bei ihren Namen und wurde in der ersten Zeit verdächtigt.

      »Wir sind im ersten Stadium der Weltrevolution«, sagte Natascha in jeder Nachhilfestunde, »Männer wie du gehören noch zur alten Welt, können uns aber gute Dienste leisten. Wir nehmen dich eben mit. Du verrätst die bürgerliche Klasse, der du angehörst, du bist uns willkommen. Aus dir kann ein Revolutionär werden, aber ein Bürger bleibst du immer. Du warst Offizier, das tödlichste Werkzeug in der Hand der herrschenden Klasse, du hast das Proletariat geschunden, du hättest erschlagen werden müssen. Sieh doch den Edelmut des Proletariats! Es erkennt an, daß du was von Taktik verstehst, es verzeiht dir, es läßt sich sogar von dir führen.«

      »Ich führe es ja nur deinetwegen – weil ich dich liebe«, sagte der altmodische Tunda.

      »Liebe! Liebe!«, schrie Natascha. »Das kannst du deiner Braut erzählen! Ich verachte deine Liebe. Was ist das? Du kannst es nicht einmal erklären. Du hast ein Wort gehört, in euren verlogenen Büchern und Gedichten gelesen, in euren Familienzeitschriften! Liebe! Ihr habt euch das wunderbar eingeteilt: Da habt ihr das Wohnhaus, dort die Fabrik oder den Delikatessenladen, drüben die Kaserne, daneben das Bordell und in der Mitte die Gartenlaube. Ihr tut so, als wäre sie das Wichtigste in eurer Welt, in ihr schichtet ihr alles auf, was Edles, Erhabenes, Süßes in euch ist, und ringsum ist Platz für eure Gemeinheit. Eure Schriftsteller sind blind oder bestochen, sie glauben eurer Architektur, sie schreiben von Gefühlen statt von Geschäften, von Herz statt von Geld, sie beschreiben die kostbaren Bilder an den Wänden und nicht die Kontos in den Banken.«

      »Ich habe nur Detektivromane gelesen«, warf Tunda schüchtern dazwischen.

      »Ja, Detektivromane! Wo die Polizei siegreich ist und der Einbrecher gefangen wird, oder wo ein Einbrecher nur deshalb siegreich ist, weil er ein Gentleman ist und den Frauen gefällt und einen Frack trägt. Wenn du nur meinetwegen bei uns bist, werde ich dich erschießen«, sagte Natascha.

      »Ja, nur deinetwegen!«, sagte Tunda.

      Sie atmete auf und ließ ihn am Leben.

      Es ist gleichgültig, ob jemand durch Lektüre, Nachdenken, Erleben Revolutionär wird oder durch die Liebe. Sie rückten eines Tages in ein Dorf im Gouvernement Samara ein. Einen Popen und fünf Bauern, die beschuldigt waren, Rotarmisten zu Tode gefoltert zu haben, führte man Tunda vor. Er befahl, den Popen und die fünf Bauern zusammenzubinden und zu erschießen. Ihre Leichen ließ er zur Abschreckung liegen. Er haßte noch die Toten. Er nahm persönlich Rache an ihnen. Man hielt es für selbstverständlich. Niemand von der Truppe wunderte sich darüber.

      Überraschte es sie denn nicht, daß einer töten konnte, ohne zu wollen?

      »Das hast du für mich getan«, sagte Natascha verächtlich.

      Zum erstenmal aber hatte Tunda etwas nicht für Natascha getan. Als sie ihm den Vorwurf machte, fiel es ihm ein, daß er gar nicht an sie gedacht hatte. Aber er gestand es nicht.

      »Natürlich für dich!«, log er.

      Sie freute sich und verachtete ihn.

      Alle seine Kameraden aus der Kadettenschule und vom Regiment hätte er im Namen der Revolution erschossen. Eines Tages wurde ein politischer Kommissar ihrer Truppe zugeteilt, ein Jude, der sich den Namen Nirunow beigelegt hatte, ein Schriftsteller, der flinke Zeitungen und Aufrufe herstellte, der flammende Reden hielt, bevor es zu einem Angriff kam, und ebenso plump war im Gespräch, wie er geschickt war in der Fähigkeit zu begeistern. Dieser Mann, häßlich, kurzsichtig und töricht, verliebte sich in Natascha, die ihn wie einen politisch Ebenbürtigen behandelte. Tunda wollte ebenso sprechen können wie der Kommissar, er eiferte ihm nach. Er eignete sich die technischen Ausdrücke des Politikers an, er lernte auswendig, mit der Fähigkeit eines Verliebten. Der Kommissar wurde eines Tages verwundet, man mußte ihn zurücklassen, Tunda hielt seitdem politische Reden und verfaßte Aufrufe.

      Er kämpfte in der Ukraine und an der Wolga, er zog in die Berge des Kaukasus und marschierte zurück an den Ural. Seine Truppe schmolz zusammen, er füllte sie auf, er warb Bauern an, erschoß Verräter und Überläufer und Spione, schlich sich hinter den Rücken des Feindes, ging für einige Tage in eine von Weißen besetzte Stadt, wurde verhaftet, entfloh. Er liebte die Revolution und Natascha wie ein Ritter, er kannte die Sümpfe, das Fieber, die Cholera, den Hunger, den Typhus, die Baracke ohne Arznei, den Geschmack des verschimmelten Brotes. Er stillte den Durst mit Blut, er kannte den Schmerz des Frostes und seinen Brand, das Frieren in den mitleidlosen Nächten, das Schmachten in heißen Tagen, er hörte in Kasan einmal Trotzki reden, die harte tatsächliche Sprache der Revolution, er liebte das Volk. Er erinnerte sich manchmal an seine alte Welt, wie man sich an alte Kleider erinnert, er hieß Baranowicz, er war ein Revolutionär. Er haßte die reichen Bauern, die fremden Armeen, die den Weißgardisten halfen, er haßte die Generäle, die gegen die Roten kämpften. Seine Kameraden begannen ihn zu lieben.

      5

      Er erlebte den Sieg der Revolution.

      Die Häuser in den Städten zogen rote Fahnen an und die Frauen rote Kopftücher. Wie lebendiger Mohn gingen sie herum. Über dem Elend der Bettler und der Obdachlosen, über den verwüsteten Straßen, den zerschossenen Häusern, dem Schutt auf den freien Plätzen, den Trümmern, die nach Brand rochen, den Zimmern, in denen Kranke lagen, den Friedhöfen, die unaufhörlich ihre Gräber öffneten und schlossen, den seufzenden Bürgern, die den Schnee schaufeln und die Bürgersteige reinigen mußten, lag die unbekannte Röte. In den Wäldern verhallten mit weichem Echo die letzten Schüsse. Letzter Feuerschein huschte über nächtliche Horizonte. Die schweren und schnellen Glocken der Kirchen hörten nicht auf zu läuten. Die Setz- und Druckmaschinen begannen ihre Räder zu drehen, sie waren die Mühlen der Revolution. Auf tausend Plätzen sprachen die Redner zum Volk. Die Rotgardisten marschierten in zerrissenen Kleidern und in zerrissenen Stiefeln und sangen. Die Trümmer sangen. Freudig stiegen die Neugeborenen aus den Schößen der Mütter.

      Tunda kam nach Moskau. Es wäre ihm gelungen, in jenen Tagen, in denen es Ämter regnete, einen Schreibtisch und einen Stuhl zu bekommen. Er hätte sich nur melden müssen. Er tat es nicht. Er hörte alle Reden, ging in alle Klubs, sprach mit allen Menschen, ging in alle Museen und las alle Bücher, die er bekommen konnte. Er lebte damals von Artikeln für Zeitungen und Zeitschriften. Es gab ein Klischee für Proteste und Aufrufe, ein zweites für Skizzen und Erinnerungen, ein drittes für Empörung und Anklage. Seine Gesinnung war revolutionärer als diese fertige Sprache. Er übernahm nur das Handwerkszeug. Schriftsteller erleben alles durch das Mittel der Sprache, sie haben kein Erlebnis ohne Formulierung. Tunda aber suchte nach bestehenden, oft erprobten und zuverlässigen Formulierungen, um nicht im Erlebnis unterzugehen. Er griff, wie ein Ertrinkender, mit ausgestreckten Armen nach der nächsten Klippe. Tunda, der im Jahre 1914 ausgezogen war, um nach einigen Monaten über die Ringstraße von Wien zu marschieren, zu den Klängen des Radetzkymarsches, taumelte in der zerrissenen und zufälligen Kleidung eines Rotarmisten durch die Straßen von Moskau und fand für seine Ergriffenheit keinen anderen Ausdruck als den abgewandelten Text der Internationale. Nun gibt es Augenblicke im Leben der Völker, der Klassen, der Menschen, Augenblicke, in denen die Billigkeit einer Hymne gleichgültig ist gegenüber der Feierlichkeit, mit der sie gesungen wird. Dem Sieg der russischen Revolution waren selbst die beruflichen Schriftsteller nicht gewachsen. Alle machten billige Anleihen und schrieben abgegriffene Worte in die Zeit. Tunda wußte gar nichts von der Billigkeit dieser Worte, sie erschienen ihm ebenso großartig wie die Zeit, in der er lebte, wie der Sieg, den er erfochten hatte.

      Mit Natascha traf er nur des Nachts zusammen.

      Sie

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