Die Flucht ohne Ende. Йозеф Рот
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Читать онлайн книгу Die Flucht ohne Ende - Йозеф Рот страница 6

Tunda wollte wissen, was Natascha den Tag über bis Mitternacht tat. Sie hätte, selbst wenn es ihre Grundsätze gestattet hätten, nicht erzählen können, denn es war viel. Sie organisierte Frauenheime, lehrte Wöchnerinnen Hygiene, beaufsichtigte obdachlose Kinder, hielt Vorträge in Fabriken, in denen die Arbeit unterbrochen wurde, damit sie den Marxismus ungestört erläutern könne, arrangierte revolutionäre Theatervorstellungen, führte Bäuerinnen, in Museen, versenkte sich in die Kulturpropaganda, ohne die breiten Reiterhosen, in denen sie gekämpft hatte, gegen einen Rock zu vertauschen. Sie blieb gewissermaßen eine Frontkämpferin.
Den Vorwürfen Tundas begegnete sie, ja, sie kam ihnen zuvor, mit anderen, die im Zusammenhang mit der Größe der Zeit wichtiger waren.
»Weshalb arbeitest du nicht?«, rügte sie, »du ruhst auf deinen Lorbeeren aus. Wir haben noch nicht den Sieg, es ist noch Krieg, er beginnt jeden Tag aufs neue. Die Zeit des Bürgerkriegs ist vorbei, der viel wichtigere Krieg gegen das Analphabetentum beginnt. Wir führen heute einen heiligen Krieg um die Aufklärung unserer Massen, um die Elektrifizierung des Landes, gegen die Verwahrlosung der Kinder, für die Hygiene der arbeitenden Klasse. Für die Revolution ist uns kein Opfer zu teuer«, sagte Natascha, die im Felde immer origineller gesprochen hatte, aber seit ihrer gesteigerten öffentlichen Tätigkeit nicht anders mehr reden konnte.
»Da hast du was von Opfern gesagt«, erwiderte der naive Tunda, der sich von Zeit zu Zeit seine eigenen Gedanken über die historischen Ereignisse zu machen pflegte, »ich wollte dich schon oft fragen, ob du nicht auch dieser Meinung bist: ich stelle mir die Zeit des Kapitalismus so vor, daß er die Zeit der Opfer war. Seit den ersten Anfängen der Geschichte opferten die Menschen. Zuerst Kinder und Rinder für den Sieg, dann opferten sie die Tochter, um den Ruin des Vaters zu verhindern, den Sohn, um seiner Mutter ein angenehmes Alter zu bereiten, die Frommen opferten Kerzen für das Seelenheil der Toten, die Soldaten opferten ihr Leben für den Kaiser. Sollen wir nun auch für die Revolution opfern? Mir scheint, jetzt beginnt endlich die Zeit, in der man nicht opfert. Wir haben nichts, wir haben ja das Eigentum abgeschafft, nicht wahr? Auch unser Leben gehört uns nicht mehr. Wir sind frei. Was wir haben, gehört allen. Alle nehmen von uns, was ihnen gerade notwendig erscheint. Wir sind keine Opfer, und wir bringen keine Opfer für die Revolution. Wir sind selbst die Revolution.«
»Eine bürgerliche Ideologie«, sagte Natascha. »Welchen Arbeiter lockst du damit hinter seinem Ofen hervor? Du redest verstiegenes Zeug, ich wundere mich, woher du es hast. Du redest, als hättest du mindestens sechs Semester Philosophie. Ein Glück, daß deine Artikel nicht so geschrieben sind. Ein paar sind ganz gut.«
Für die Liebe bezeugte Natascha immer weniger Interesse. Die Liebe gehörte ja zu den Gebräuchen des Bürgerkrieges, zu den Sitten im Felde, der friedlichen Kulturpropaganda konnte sie abträglich sein. Natascha kam um Mitternacht nach Hause, bis zwei Uhr dauerten ihre Diskussionen, um sieben Uhr früh mußte sie aufstehen. Die Liebe hätte zur Folge gehabt, daß sie eine Stunde später ihr Tagewerk begonnen hätte.
Auch langweilte sie Tunda, ein Mann ohne Energie, dessen Rückfälle in die bourgeoise Ideologie allein schon in seiner stärkeren Liebesbereitschaft deutlich wurden. Nikita Kolohin, ein ukrainischer Kommunist, der für die nationale Autonomie der Ukraine kämpfte und die Großrussen verachtete, weil sie nicht alle Worte des ukrainischen Dialekts verstanden, hatte in den letzten Tagen mit Natascha viele Stunden lang die Lage der ukrainischen Nation besprochen und bei dieser Gelegenheit bewiesen, wie hoch er über einem österreichischen Offizier stand. Natascha erinnerte sich, daß sie ja in Kiew zur Welt gekommen, also eigentlich Ukrainerin war, daß in Kiew ihr Posten war und nirgendwo sonst. Sie reiste mit Nikita nach Kiew – – was war da anderes zu machen?
Sie lernte ein paar kernige ukrainische Ausdrücke, fuhr durch die Dörfer, erinnerte die Bauern an ihre nationalen Pflichten und traf mit Nikita wieder in Charkow zusammen, das nunmehr Charkiw hieß und in dem ein kleines Zimmer für sie und Nikita bei Freunden vorbereitet war.
Leider vergaß Natascha, Tunda rechtzeitig von ihrem längeren Aufenthalt in der Ukraine zu verständigen. Daher kam es, daß Tunda zuerst eifersüchtig wurde und annahm, ein Mann oder mehrere würden Natascha verhindern, in der Nacht nach Hause zu kommen. Er suchte sie in allen Klubs, allen Heimen, allen Redaktionen, allen Büros. Dann wurde er wehmütig; es war der erste Schritt zur Erkenntnis. Er vergaß, Artikel zu schreiben, das nötige Geld für die nächsten Tage zu verdienen, er hungerte fast. Ein paar bekannten Genossen erzählte er von Nataschas Abwesenheit. Sie sahen ihn gleichgültig an. Jeder von ihnen hatte in diesen Monaten ähnliche Erfahrungen gemacht. Aber es stand ja fest, daß die Welt neu eingerichtet werden mußte und daß kleine private Schmerzen lächerlich waren.
Nur Iwan Alexejewitsch, Iwan der Grausame genannt, weil er im Bürgerkrieg den gefangenen Popen aus ihren langen Haaren Zöpfe geflochten, einige an den Zöpfen zusammengebunden und jeden dann in eine andere Richtung hatte laufen lassen, Iwan Alexejewitsch, der jetzt noch bei der Kavallerie diente, eigentlich gutmütig war und Grausamkeiten nur aus Überfluß an Phantasie beging, Iwan allein ließ sich in ein längeres Gespräch über die Liebe ein.
»Die Liebe«, so sagte Iwan, »ist gar nicht abhängig von der Revolution. Im Krieg hast du mit Natascha geschlafen, sie war ein Soldat, du warst ein Soldat, ob Revolution oder nicht, ob Kapitalismus oder Sozialismus, die Liebe hält nur bei gleich und gleich einige Jahre. Jetzt ist Natascha kein Soldat mehr, sie ist eine Politikerin, und du bist – – das weiß ich nicht, was du bist. Früher einmal hat man die Frau geschlagen, wenn sie nicht nach Hause kam, aber wie willst du diese Frau schlagen, die wie zwanzig Männer gekämpft hat? Sie hat nicht nur gleiche Rechte, sie hat mehr Rechte als du. Deshalb bin ich gar nicht in mein Dorf zurück. Dort lebt meine Frau mit fünf Kindern (wenn sie nicht noch einige hat, aber die ersten fünf sind von mir). Bevor ich zur Roten Armee ging, habe ich alle geschlagen, alle fünf und die Frau, jetzt bin ich aufgeklärt, wenn ich nach Hause käme, müßte ich selbst sagen: mit dem Prügeln ist es aus. Aber es wäre gegen meine Natur, ich hätte doch fortwährend Lust, diesen und jenen in meiner Familie zu verprügeln, und ich dürfte es nicht. Daraus könnten sich dann Konflikte entwickeln, und ein anständiges Familienleben käme nicht zustande, wenn ich mich fortwährend beherrschen müßte.«
Nicht einmal die Rückkehr Nataschas tröstete Tunda. Sie kam nach einigen Wochen, mußte zu einem Arzt und dachte weder an Tunda mehr noch an die ukrainische Nation. Sie blieb acht Tage im Bett, Tunda bediente den Spirituskocher. Wer diese Tätigkeit kennt, wird wissen, daß keine andere wie sie geeignet ist, auch sentimentale Männer zur Kritik zu erziehen. In diesen acht Tagen wurde Tunda seiner Liebe, die sich in Kochen verwandelt hatte, einfach müde.
Mit Hilfe einiger alter Freunde aus der Zeit des Kriegskommunismus fand er einen Schreibtisch. Er saß in dem Büro eines neubegründeten Instituts, dessen Aufgabe es war, einige kleine Völker des Kaukasus mit einem neuen Alphabet, mit Fibeln, mit primitiven Zeitungen zu versehen, neue nationale Kulturen zu schaffen. Tunda bekam den Auftrag, mit Probezeitungen, Zeitschriften, Propagandamaterial nach dem Kaukasus zu reisen, an den Fluß Terek, an dessen Ufer ein Völkchen lebte, das nach alten Statistiken zwölftausend Seelen zählen sollte.
Er wohnte einige Wochen im Hause eines besser situierten Kumyken, der aus religiösen Gründen Gastfreundschaft übte und den unbequemen Fremden mit freundlicher Fürsorge behandelte.
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