Ein Kind unserer Zeit. Ödön von Horváth
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Читать онлайн книгу Ein Kind unserer Zeit - Ödön von Horváth страница 7
Endlich hab ichs drunten, das miserable Zeug.
Da hör ich den Eismann hinter mir: »Noch eine Portion?«
»Ja«, sage ich und schon hatte ich wieder eine in der Hand.
Was ist denn mit mir?! Bin ich denn total verblödet?! Was freß ich da die zweite Portion, wenns mir von der ersten schon übel ist?!
Ich mach mich ja noch ganz lächerlich mit meinem Eis, wie ein Schulbub steh ich da und derweil hab ich doch zwei silberne Stern –
Und schon wollte ich das Eis wütend an die Erde hauen, da tauchte aus der Finsternis ein Rittmeister auf. Gottlob bemerkte ich ihn noch im allerletzten Moment und salutierte. Der Rittmeister dankte und ging vorbei.
Jetzt lacht sie – natürlich!
Weil ich die Ehrenbezeugung mit dem Eis in der Hand leistete, und sowas ist selbstredend lächerlich.
Ich bin ja auch blöd und sie lacht, doch das Gelächter aus dem Lautsprecher übertönt sie.
Ich höre sie nicht.
Aber jetzt wirds mir allmählich zu bunt!
Jetzt ists mir egal! Jetzt wird reiner Tisch gemacht!
Und zwar sogleich, auf der Stell!
Ich hau das Eis an die Erde, daß es nur so klatscht, und geh hinüber. Schnurgerade. Zum verwunschenen Schloß.
Richtung: die Kasse.
Direkt auf sie zu. Werden sehen, ob sie noch lacht, wenn ich komm!
Sie sieht mich kommen und lacht nicht mehr.
Aha!
Sie sieht mich nur groß an, wie ich so näherkomm – groß und ernst.
Hast du Angst vor mir?
Paß nur auf, jetzt komme ich!
Ich hab schon die letzten drei Stufen und nun stehe ich vor der Kasse. Sie blickt hinab, ich seh nur ihr Haar. Es ist weich und zart.
Auf dem Pult liegt ein Blatt Papier. Sie hat zuvor nichts geschrieben, sondern nur so herumgekritzelt. Allerhand Linien –
Und ich sage: »Eine Eintrittskarte« – es klang fast streng und es tat mir leid.
»Bitte«, sagt sie.
Zittert ihre Hand?
Oder zittere ich?
Sie wechselt mein Geld.
Ich hatte noch niemand so schön wechseln gesehen.
Die Linie, die Linie – muß ich wieder denken.
Und dann betrete ich das verwunschene Schloß.
Zuerst wirds ganz finster, man muß sich vorwärtstappen – rechts und links. Und während ich so tappe, muß ich an ihre Stimme denken, wie sie vorhin »Bitte« gesagt hat.
Mir ists, als hätte ich diese Stimme schon gehört, irgendwo, irgendwann – vor einer halben Ewigkeit. Und plötzlich fällts mir auf, daß ich es nicht weiß, was meine Mutter für eine Stimme hatte.
Überhaupt kann ich mich an meine Mutter nicht mehr erinnern.
Sie starb ja gleich nach dem Weltkrieg, an der Grippe, noch wie ich ganz klein war –
Oft, wenn ich allein auf Posten stehe, gehts mir durch den Sinn wie eine alte Wolke, besonders in der Nacht. Was gewesen ist, greift nach mir.
Dann seh ich mich zwischen Tisch und Bett.
Ich bin drei Jahr, nicht älter –
Das Fenster ist hoch, ich kann nur hinausschauen, wenn mich wer hebt. Und wenn ich hinausschau, dann seh ich noch nichts. Oder hab ichs inzwischen vergessen?
Heut weiß ich nur, es zog zum Fenster herein –
Doch im Ofen brannte kein Feuer. Nach einem Krieg gibts halt oft keine Kohlen.
»Es ist kalt«, das ist meine erste Erinnerung.
Mein erstes Gefühl, das mir blieb.
Komisch, daß es mir noch niemals eingefallen ist, daß ichs nicht weiß, was meine Mutter für eine Stimme gehabt hat – bumm!
Jetzt war ich aber fast gestürzt!
Da ist ja eine Versenkung, aber nur an der linken Seite, so daß man mit dem linken Bein tiefer gehen muß als mit dem rechten. Zu blöd!
Endlich hab ich das linke Bein wieder auf gleicher Höh, da fall ich mit dem rechten hinab. Also das ist wirklich zu blöd!
Ein feines Vergnügen!
Jetzt sitzt sie draußen an ihrer Kasse und lacht, daß ich drin bin. Trotzdem hat sie einen schönen Mund – wenn mich nicht alles täuscht.
Wie sieht sie eigentlich aus?
Komisch, ich hab sie doch lange genug betrachtet und weiß es noch immer nicht genau –
Warum hab ichs also gefressen, das Eis?
Ich bin ein Tepp.
Doch halt! Sie hatte ja den Kopf fast immer gesenkt, weil sie ihre Linien gekritzelt hat, um mich nicht sehen zu müssen –
Jaja, diese Linien!
Die sind schuld daran, daß ich jetzt da herumstolpern muß – über laufende Teppiche, wackelnde Brücken, an Särgen vorbei, in denen enthauptete Wachsfiguren liegen, umgeben von Gespenstern, Gehenkten, Geräderten – aber mich schreckt nichts. Da tät ich mir aufrichtig leid.
Ich biege um eine Ecke und begegne einem Skelett.
Ich betrachte es aus der Nähe.
Es dürfte ein Originalskelett sein und so sehen wir aus, wenns vorbei ist mit unserem Zauber.
Und mit den Linien –
Ich reiche dem Knochen die Hand.
Hinter der nächsten Tür steh ich wieder im Freien. Neben der Kasse.
Aber meine Linie sitzt nicht mehr dort.
Sondern eine alte Hex.
Ich starre sie verdutzt an und sie kommt auf meine Gedanken.
»Meine Tochter ist fort«, sagt sie fast spöttisch.
»Wohin?« frage ich mechanisch.
»Ins Kino.«
Ich salutiere leicht und gehe auch fort.