Das Wunder Mozart. Harke de Roos
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Zu den populärsten Maßnahmen Josephs gehörten das Toleranzedikt 1782, die Pressefreiheit und die Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern, wobei pikanterweise auch das „jus primae noctis“, das Herrenrecht auf die erste Nacht mit Bräuten frisch vermählter Untertanen, betroffen war. Bei näherem Hinsehen sticht allerdings unverkennbar reformerische Halbherzigkeit ins Auge. So mussten die Juden, um „toleriert” zu werden, eine hohe Schutzgebühr bezahlen. Die Leibeigenschaft wurde nur auf den Staatsgütern aufgehoben, in Ländern wie Böhmen und Regionen wie Siebenbürgen blieb sie weiterhin bestehen. Zudem wurde die gutsherrliche Verfassung überhaupt nicht angetastet. Der rumänische Bauernaufstand wurde mit Billigung Josephs auf brutale Art niedergeschlagen.
Gegenüber der Schließung der Klöster stand die Errichtung von Hunderten neuer Pfarreien. Hier war es dem Kaiser um eine Verlagerung der Macht über kirchliche Angelegenheiten zu tun.
Auch die Aufhebung der Zensur war alles andere als eine idealistische Maßnahme. Die Pressefreiheit wurde von Joseph als Mittel benutzt, die Kirche hemmungslos zu kritisieren, denn die Zensur wurde lediglich der Kirche entzogen und kam unter staatliche Regie. Unter strenge Zensur fielen vor allem die Gedenkschriften des Papstes zum Thema Kirchenreform in Österreich. Zuständig für die Zensur wurde übrigens Baron Gottfried van Swieten, der Sohn Gerhards und spätere Mäzen Mozarts.
Zu den unpopulärsten Maßnahmen Josephs gehörte das Begräbnispatent vom 23. August 1784. Der kaiserliche Befehl, die Toten der 3. Klasse nicht in Särgen zu bestatten, sondern sie in leinenen Säcken in die Grube zu legen und mit ungelöschtem Kalk zu überwerfen, löste in der Bevölkerung derartig heftigen Widerstand aus, dass er bereits nach einem halben Jahr wieder zurückgenommen werden musste. Nichtsdestoweniger galt Joseph nach wie vor beim einfachen Volk als Störer der Totenruhe schlechthin. Kein zeitgenössischer Besucher der Aufführungen von Mozarts Oper Don Giovanni wird sich bei der berühmten Friedhofsszene der Assoziation mit dem Begräbnispatent entzogen haben können; dafür war das Bühnengeschehen einfach zu aktuell.
Es leuchtet ein, dass die Wiener Reformen Josephs nicht mit den toskanischen seines Bruders verglichen werden können. Weil bei Josephs Reformen die idealistische Basis fehlte, war Leopolds Gesellschaftserneuerung konsequenter und radikaler. Trotzdem bildeten die unterschiedlichen Auffassungen keinen wirklichen Zankapfel zwischen den Brüdern. Solange es sich um innere Staatsangelegenheiten handelte und in beiden Territorien fleißig Krankenhäuser gebaut wurden, konnte es dem einen recht sein, was beim anderen reformiert wurde und was nicht. In der Außenpolitik und den familiären Angelegenheiten lagen die Dinge völlig anders. In diesen Bereichen gab es jede Menge Zündstoff, wie zum Beispiel Josephs Absichtserklärung, die relative Unabhängigkeit der Toskana („Sekundogenitur“) nach der Regierungszeit Leopolds aufzuheben und das Land dem Reich einzuverleiben. Sehr konfliktträchtig waren auch die Unterschiede in der Außenpolitik, vor allem gegenüber Russland und der Türkei. Joseph strebte, auf Kosten der Türkei, eine enge Allianz mit Katharina der Großen an. In geheimen Besprechungen wurde beschlossen, das geschwächte Osmanische Reich von beiden Seiten anzugreifen, so weit wie möglich zu erobern und die eroberten Gebiete unter einander aufzuteilen. Leopold wurde von Joseph aufgefordert, sich mit seinem Land am geplanten Eroberungszug zu beteiligen. Als überzeugter Pazifist und Verächter der aus seiner Sicht rückständigen feudalen Verhältnisse in Russland widersetzte sich dieser jedoch den imperialistischen Plänen Josephs. Er argumentierte, dass
eine schwache, ständig von der Gefahr der Auflösung bedrohte Türkei für Österreich ein weit angenehmerer, weil ungefährlicherer Nachbar wäre als das ehrgeizige, expansionslüsterne Russland.
Leopold konnte seinen Bruder nicht davon abhalten, die Türkei anzugreifen und Joseph konnte nicht verhindern, dass Leopold in seinem Land die Armee ganz abschaffte. Dennoch ist der Konflikt zwischen den Brüdern für uns interessant, denn genau zu dem Zeitpunkt, an dem er unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgefochten wurde, fand die Uraufführung von Mozarts türkenfreundlichem Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ statt, zudem noch in Josephs eigenem Theater. Dazu gilt es zu bedenken, dass der Intendant der kaiserlichen Theater, Leopolds ehemaliger erster Minister Franz Xaver Orsini-Rosenberg, dem Komponisten das Buch zur Oper angetragen hatte und dass der Besuch des russischen Thronanwärters Paul Anlass zum Kompositionsauftrag gab. Paul wollte zur Besiegelung der gemeinsamen Angriffsabsichten nach Wien kommen. Hinter der zeitlosen Schönheit der Bühnenwerke Mozarts steckte nicht selten eine ganz und gar zeitgebundene Aktualität, die manchmal hochpolitische Aspekte enthielt. So sind in der „Entführung“ unverhohlene Seitenhiebe auf die Regierungspolitik Josephs versteckt. Die Schlussansprache des Großmoguls Bassa Selim kann man getrost als moralische Ohrfeige für Kaiser Joseph auffassen. Jedenfalls wird in diesem Lichte verständlich, warum das kaiserliche Lob für die Oper ein wenig sauer klang und weshalb die Premiere verschoben wurde.
Ein sympathisch anmutender Zug im Charakter Josephs bestand darin, dass er, obwohl er keinen Widerspruch duldete, trotzdem gut Kritik einstecken konnte. Die vielen Pamphlete, in denen seine Politik kritisiert und seine Person verspottet wurde, scheinen ihn eher amüsiert als geärgert zu haben. Was man auch über ihn sagen kann, nachtragend war er nicht. Außerdem ist zu vermuten, dass sein musikalischer Geschmack viel besser war als die Geschichtsschreibung uns suggerieren will.
Ein seltsamer Zug im Charakter des Kaisers war seine Vorliebe für das Militär. Offensichtlich hatte der Monarch das Bedürfnis, dem ruhmreichen preußischen Gegner Friedrich dem Großen, den er sehr bewunderte, den Rang abzulaufen und auf dem Schlachtfeld Trophäen zu sammeln. Es kann aber ebenso gut sein, dass er auch auf diesem Gebiet den Tod herausfordern wollte und auch dort die Konfrontation mit dem Jenseits suchte. Aber ob nun so oder anders, jedenfalls steht fest, dass er für das Kriegshandwerk denkbar untauglich war. Wo Joseph als höchster Kriegsherr auf dem Kriegsschauplatz erschien, folgte das Chaos auf dem Fuß. Entweder fand die Schlacht gar nicht statt, wie beim bayerischen Feldzug 1778, oder sie wurde aus Schrecken vor den veranschlagten Opferzahlen zögerlich und dilettantisch durchgeführt, so zum Beispiel im Türkenkrieg zehn Jahre später. Letztgenannter Krieg wurde Joseph zum persönlichen Verhängnis, indem er sich auf dem Schlachtfeld mit einer tödlichen Krankheit infizierte.
Trotz unterschiedlicher Auffassungen schien das äußere Verhältnis zwischen den beiden Brüdern bis kurz vor Josephs Tod gut und herzlich. Nur den geheimen Aufzeichnungen Leopolds ist zu entnehmen, wie sehr Leopold die gewaltsamen Züge Josephs und dessen rastlose, unkoordinierte Arbeitsweise hasste. Joseph dagegen hat sich immer voller Stolz und Bewunderung über den Bruder ausgelassen, aber konnte, wie schon erwähnt, einen gewissen Neid, vor allem auf dessen prosperierendes Familienleben, nicht verhehlen.
Gegen diesen Hintergrund ist zu verstehen, dass Joseph die Order erließ, alle Kinder Leopolds, also nicht nur den Thronanwärter Franz, ab dem 16. Lebensjahr zur Ausbildung nach Wien zu schicken. Durch diesen Befehl traf er Leopold, der seine Kinder über alles liebte, mitten in die Seele. Mit traumwandlerischer Sicherheit hatte Joseph den Nerv gefunden, mit dem er seinen Bruder wirklich verletzen konnte, zumal aus der betreffenden Anordnung eine für Leopold kaum erträgliche Geringschätzung gegenüber der Toskana sprach.
In seinem letzten Lebensjahr wurde Joseph die Rechnung für diese Handlungsweise präsentiert, indem Leopold sich gegen die Politik seines Bruders kehrte. Nachdem Joseph Ende 1788 desillusioniert und krank vom Türkenfeldzug zurückgekehrt war, entglitt ihm in wachsendem Maße die Kontrolle über die Monarchie. Die Berichte über den alarmierenden Gesundheitszustand des Bruders veranlassten Leopold, die Arbeit am toskanischen Verfassungsprojekt wieder aufzunehmen, in der Erwartung, diese Pläne bald auf das ganze Reich anzuwenden. Auch versuchte der Großherzog, den belgischen Ständen in verdeckten Botschaften klarzumachen, dass er die zentralistische Politik des Kaisers