3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
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Swop
„Freelax” (1997)
Swop, ein Hamburger Groovekollektiv um das Trio Max III (dr, p), Acha Dag (g) und Dumisani Mabaso (perc), entwickelt auf dem zweiten Album eine hypnotisch kreisende Funkjazzspirale, die uns einspinnt, ohne uns die Luft zu nehmen. Unterm Einfluss dieser synthielosen, afroamerikanisch-algerischen Softdroge werden wir leicht wie auf dem Mars und landen irgendwann in einem kalifornischen (oder tunesischen?) Nachtclub der 70er, wo Farbkreise über die Wände flackern, ein Ventilator sein Werk so sachte tut, dass kein Hauch sich regt, das Leben leicht ist und der Sound dunkel. Und dann treibt uns bei diesem staubtrockenen, statischen TripJazz der Kopf weg. Aber gaaaanz langsam.
Terry Callier
„TimePeace” (1997)
Terry wer? Callier hat seit den 60ern einige Alben eingespielt, die keiner mehr kennt. Die letzten 15 Jahre entzog er sich dem Business ganz, erzieht seither sein Kind allein und schreibt Software. Was musikalisch gesehen bitter schade war, nimmt man die Songs auf „TimePeace“ zum Maßstab. Denn der alte Bock Callier katapultiert sich mit Hilfe des englischen Acidjazz-Labels mitten hinein ins Hier und Jetzt. Der Mann ist ein Sänger und Songwriter von einsamer Klasse, ein missing link zwischen John Martyn, Scott Walker, Tim Buckley, Galliano und frühem Van Morrison. Wesentlich getragen von Akustikgitarre und bundlosem Bass erschließt er uns ein Traumland zwischen Folk und Soul, Jazz und ChaChaCha, dessen entspannte Intensität Geschichte machen wird. So sehr schwebt dieses grandiose Album zwischen allem, dass es seinen ganz eigenen Ort hat. Und wenn man genau hinsieht, kann man in der Ferne schon das Hochplateau des Olymp erspähen.
The Furthurs
„From the Wells of Disappointment” (1997)
Kölner in New Jersey, rheinische Frohnaturen auf den Spuren uramerikanischer Melancholie – geht das? Das geht. In schleppender Melancholie durchschlurfen die Furthurs ihre musikalische Vision von Amerika, dunkle Farben hüllen die Stimme von Kurt Kreikenbom ein, der immer etwas abseits im Klangraum steht, als sei er zu scheu, um an die Rampe zu treten. Doch es geht um Konzentration, um einen deutschen Traum von Amerika, den auch FSK träumen, doch nicht so versunken und auf so schöne Weise unheilvoll – wie das malerische Panoramabild des Technicolorstädtchens Bodega Bay in Hitchcocks Film „Die Vögel“. Wir wissen, was passieren kann – später.
The Grassy Knoll
„Positive” (1997)
Nehmen wir das Sirren der Gleise, wenn die U-Bahn sich nähert, nehmen wir den Glanz, mit dem sich das Morgenlicht im Smog verliert, nehmen wir den Zusammenklang der Hupen und Stimmen vor allen roten Ampeln der Stadt, nehmen wir den Typen mit dem Saxofon an der Ecke und das Klimpern der Münzen in seinem Hut. Nehmen wir die Art, wie sich eine aufsteigende Dieselwolke zum Lärm des Motors verhält. Und nehmen wir, geringer dosiert, die Messer, das Blut, die Angst. Nehmen wir all das und die dampfenden Gullys nach dem Guss und den grauen Strauch auf der Verkehrsinsel und den dicken Kopf nach einer euphorischen Cocktailnacht – und wir haben eine Ahnung vom Klang dieser minimalistischen Großstadtsinfonien, die als Summe dieses Album ergeben, das Bob Green aus San Francisco sich ausdachte. Es ist die Melange aller schwarzen urbanen Jazzstile, geschichtet aus Bläsern, Klavieren und Keyboards und Samples, die er hart aneinanderschneidet wie David Lynch seine Bilder. Und die Gosse und der Glamour: alles groovt.
The Prodigy
„The Fat of the Land” (1997)
Keith Flint sieht aus wie ein junger Marlon Brando, der zum Halloween-Ball will, sich aber in Ken Keseys Kucgucksnest verirrt hat. Sein Outfit taugt zum Startum, aber was hat es mit dieser Musik zu tun? Mit diesen gestörten Breakbeats und Samples, dem postindustriellen Höllenlärm? Wie kann einer haargenau wie ein Rockstar aussehen, aber Musik machen für psychotische Freudianer mit Danceflooralpträumen? Musik voll krächzender Elektronikwildheiten, Stroboskopzuckungen und Raps aus brennenden Mülltonnen? Dass diese Verzerrung und Verschmutzung, diese radikale ästhetische Verweigerung massenwirksam ist, ist die größte Sensation seit Erfindung des Pop. Die Idee vom reinen Ton, hier wird sie diffamiert – in monatelanger Studioarbeit, denn so was herzustellen, bedeutet Mühsal. Prodigys Londoner Endzeitpop wirkt wie die Kakofonie hunderter Abrissbirnen im Zeitraffer. Wenn Musik und ihr Erfolg wirklich etwas sagen über eine Kultur, was bedeutet dieses Album dann für unser Leben – the lunatics have taken over the asylum??? Vielleicht. Und Keith Flint ist der neue Direktor.
The Rolling Stones
„Bridges to Babylon” (1997)
13 Songs, zwei gut: eine ganz schlechte Quote. Einer davon, „Flip the Switch“, schmiegt sich auch noch eng an „Start me up“. Der zweite ist wenigstens gut OHNE Einschränkung. „Too tight“ liefert kerzengeraden Rhythm’n’Blues mit pathetischen Keef-Riffs und knappen Wood-Soli. Vier Balladen sind auch dabei, alle mäßig, eine („Thief in the Night“) gar so langweilig wie Jaggers Endloszoff mit Jerry Hall – zumal Keith singt, was leider wie meistens bedeutet: Er kennt zwar grundsätzlich die Noten, weiß aber nicht, wo die Schlingel sich grad wieder rumtreiben. Fazit: Von Promiproduzenten (Was, Saber u. a.) und Gaststars (Preston, Keltner, Wachtel) auf Stadionformat gebrachter Mainstreamrock ohne jene bezwingenden Hooks und Riffs, die Jagger & Co. zu einer der größten Bands aller Zeiten machten. Das Leben geht weiter. Einfach so.
The Verve
„Urban Hymns” (1997)
Die Geschichte aller Kunst ist dialektisch. Jede Bewegung ruft nach ihrer Antithese, alle Avantgarde wird bald abgelöst vom Backlash. Und wo nervöse Rhythmen und Sprödigkeit regieren, entsteht rasch die Konterrevolution epischer Langsamkeit. Wir sind bei The Verve. Die Britband um den Sänger und Autor Richard Ashcroft nämlich ist episch und balladesk, wenn’s not tut auch sinfonisch („Bitter sweet Symphony“, „The Drugs don’t work“). Kein Zweifel: Das Pathos kehrt zurück in Charts und Herzen – und das im Postkutschentempo. Doch wozu bräuchte, wer solche Melodien hat, auch die Peitsche? Verve liefern DIE Antithese des Herbstes: gegen die Schnöselarroganz von Oasis, gegen die pessimistische Düsternis von Portishead und (natürlich) gegen den schrillen Dancepunk von The Prodigy. Das Verve-Universum ist ein oranges Bassin voll mit handwarmem Süßwasser. Und wir wollen nie mehr an Land.
Tilman Rossmy
„Selbst” (1997)
Ende des Jahrtausends war eine Spezies wieder da, die als ausgestorben galt: die Softies. Waren ihre Namen und Gesichter nicht Mitte der 80er leise aufgegangen in zahllosen Familien, die hinfort weibliche Stammlinien verfolgten? Hatte der Rest von ihnen sich nicht kollektiv mit Schafstrickwolle aus artgerechter Drittwelthaltung erwürgt? Nein. Manche hatten überlebt und machten jetzt Platten. Und darauf ging es, anders als im sozialkritischen Damals, nur noch um sie „Selbst“, wie Tilman Rossmy, der ungeföhnte König des Nuschelrock, denn auch sein zweites Soloalbum nannte. Sie sangen bitterscheu von „Musik und Freizeit“ (Monostars) und dem „Licht in deinen Augen“ (Rossmy), manche verstimmten dazu ihre Gitarren herzzerreißend (Monostars),