3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
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„Everything” (2000)
Vor Jahren wurde Beth Orton einmal nachgesagt, sie habe ein Genre kreiert: TripFolk. Das stimmte nicht. Erst Tim Hutton füllt den Begriff mit Inhalt. Er ist Englands Antwort auf Jay Jay Johanson, doch schlägt in ihm auch das Herz eines Singer/Songwriters. Grooves und Gitarren, Jazz und TripHop verstehen sich wortlos unterm Einfluss von Huttons sanfter, wenngleich beharrlicher Integrationskraft. „Das Experimentelle sollte in klassischen Songstrukturen funktionieren“, sagt Hutton. Seine Musik aber klingt bei weitem weniger technokratisch als Huttons Methode. Sie ist sinnlich und dunkel, aber ohne Schwere. Herbst, kannst kommen.
Tin Hat Trio
„Memory is an Elephant” (2000)
Auffällig ist die konzentrierte Ruhe und Klarheit, die das US-Trio mit der Kerninstrumentierung Akkordeon, Violine und Gitarre ausstrahlt. Bob Burger, Caral Kihlstedt und Mark Orton können was, aber sie lassen es nicht raushängen. Ihr Motto: Flair statt Virtuosität. Sie haben den Tango gelöffelt, den Swing, den Sintijazz, sie haben Piazzolla studiert und sogar die Zusammenarbeit mit dem New Yorker Lärmberserker John Zorn überstanden – alles, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Einziger Schwachpunkt ihrer hochinteressanten CD: der (überflüssige) Ausflug ins avantgardistische Kunstlied am Ende.
Tom Liwa
„St. Amour” (2000)
Schaut mal in dieses Gesicht. Es ist das eines vernarbten, traurigen Bohemiens. Hört mal diese Stimme, sie ist ganz anders: die eines träumerischen Erstsemesters. Und denkt mal nach über diese Texte. Sie sind voller Selbsterkenntnis, dabei fatalistisch und nachsichtig, als habe Tom Liwa schon ein ganzes Leben hinter sich. „Fehler für Fehler/komm’ ich mir näher“, singt er. Die Flowerpornoes hat Liwa abgeschüttelt und sich damit befreit zum akustischen Songwriterpop zwischen Nikki Sudden und Element Of Crime, zwischen dem Flair von Montmartre und der Aura einer langen Fahrt durch amerikanische Canyons. Sein Album „St. Amour“ lächelt dich an. Vernarbt und traurig. Und glücklich.
Tuey Connell
„Is this Love” (2000)
Als träfe ein junger, von durchzechten Nächten angenehm erschöpfter Sinatra auf Dave Brubeck, der zuletzt ziemlich viele Booker-T-Platten gehört hat: So klingt dieses erstaunliche Debüt. Oder tun wir dem jungen Jazzsänger und -Songschreiber Tuey Connell aus Chicago damit unrecht, wenn wir ihn mit den Größen der Vergangenheit vergleichen? Nicht besonders. Seine Kunst wurzelt tief im Gestern; sie versucht, den Barjazz am Leben zu erhalten – und das mit jenem nachtfarbenen Understatement, mit jener Coolness der schweren Lider, die beide nötig sind, damit wir beim Trinken unserer Drinks nicht aus der Ruhe geraten. Bei Connells Musik schmelzen keine Eiswürfel im Glas, aber sie vibrieren leicht. Als wollten sie swingen.
U2
„All that you can’t leave behind” (2000)
Auf so viel unwiderstehlichen Pop hätte keiner gewettet. Bonos noch immer aphrodisiakische Stimme singt die strahlendsten Songs seit dem Klassiker von 1987, „The Joshua Tree“; das ganze Album markiert eine Rückkehr zum kristallen schimmernden Poprock von erhabener Größe, der sich liebevoll um Songs und Melodien kümmert und nicht mehr um avantgardistische Bedeutungshuberei, die seit „Zooropa“ die Musik von U2 im Klammergriff hatte. Die Zeit der Experimente, als U2 verbissen die innovativste aller Megabands sein wollten, ist vorbei. Jetzt relaxt der Riese – und singt schlichte schöne Songs, statt Bosnien zu retten. Das Album liegt da wie ein sonnengesprenkelter Pool: aufs Sprungbrett und kopfüber hinein. Und dann tauchen und tauchen. „Die Songs haben keine großartigen Melodien“, sagte Bono einst über „Achtung Baby“, „aber sie gehen unter die Haut.“ Diesmal gehen sie unter die Haut, haben aber auch großartige Melodien. Und ehrlich gesagt: Das ist noch besser.
Uusitalo
„Vapaa Muurari live” (2000)
Es ist, als sähe man Robotern beim Arbeiten zu, in einer menschenleeren Halle. Die Musik von Uusitalo ist dennoch nicht ganz antibiotisch. Doch jene Frauenstimme, die manchmal aufkommt, verkörpert nur die Einsamkeit eines Organismus in einem digitalen Maschinenpark. Diese Inkarnation von Vladislav Delay, der unterm Pseudonym Luomo auch minimalistischen House erschafft, bedient sich der Sezierkünste des Dub, um die Strukturen von Techno, Elektronik und Beats freizulegen. Dank elektronischer Flächen haben wir dennoch nicht das Gefühl, das Skelett eines Cyborgs vor uns zu haben. Diese Roboter tragen Kleider, und sie sind wunderschön.
Valvola
„Teenagers film their own Life” (2000)
Es dauert eine Weile, bis klar ist, woran dieser verhallte heisere Raungesang von Gianni Antonino erinnert. An den von Leonard Cohen nämlich. Darin erschöpfen sich die Vergleiche mit Valvola aus Florenz allerdings schon, denn mit alten Orgeln, analogen Synthies, mit Fuzz- und Twanggitarren, Sitar und Tamburin hatte Cohen nie etwas am Hut. Die Italiener schon. Ihr spaciger Sixtiessound, der von fernen Zeiten flüstert, schleppt sich mühselig und beladen dahin – ein seltsamer Widerspruch, ist die Musik doch zuglech von filigraner Luftigkeit. Morricone auf Valium? Bei aller Klangfantasie bleibt das Album eintönig, weil Valvola keine richtigen Songs gelingen wollen. Auch das war übrigens bei Leonard Cohen immer anders.
Van Morrison & Linda Gail Lewis
„You win again” (2000)
Van Morrison trennt die Dinge strikt. Entweder er legt wolkigen Esoteriksoul vor, oder er übt sich in klassischen Genres. Diesmal zweiteres. Mit Jerry Lee Lewis’ Schwester Linda Gail legt er wilde Boogies aufs Parkett und schmachtet Countryfetzen. So ist uns Van letztlich auch lieber – ohne die spirituell aufgeladenen Waberklänge, die seine Gebete umhüllen. Nein, wenn er reinhaut, wenn er die Songs spielt und singt, die ihm als jungem Hallodri das Herz öffneten, dann wird er vor unseren Ohren wieder jung. Das ist schön zu erleben. Auch wenn bei manch wogendem Boogiepiano auf diesem Album der Wunsch aufkeimt, Linda Gail hätte ihren Big Brother Jerry zum Tastenhämmern mitgebracht.
Verschiedene Künstler
„3 P – Evolution” (2000)
We are family – nie wurde das so deutlich wie hier. Unter der fürsorglichen Pflege des Labelpaten Moses Pelham wuchs die 3-P-Herde kräftig, und kaum ein schwarzes Schaf ist darunter, fast alle sind erfolgreich. Unterm Projekttitel „Evolution“ hat er sie nun alle auf die Weide getrieben, auf dass sie kräftig blöken und den Ruhm derer von Rödelheim mehren in gemeinsamer Anstrengung. Ob das den Erfolg potenziert? Jedenfalls ein geschickter Schachzug, zumal Moses P. von einem Album eine Unzahl von Singles verschiedener Künstler auskoppeln kann. Der Mann hat ein Näschen fürs Geschäft. Und jetzt wieder zurück ins Ställchen, ihr Xaviers und Sabrinas und Illmatics dieser Welt.
Verschiedene Künstler
„Badlands – A Tribute to Bruce Springsteen’s Nebraska” (2000)
Bevor 1995 „Tom Joad“ erschien, stand Bruce Springsteens 13 Jahre älteres Album „Nebraska“ allein da in seinem Œuvre. Eine akustische Trutzburg, roh und rudimentär, ein düsteres Werk, das sich aus den tiefsten amerikanischen