Anarchistische Analysen zur Gegenwart. Jörg Djuren

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Anarchistische Analysen zur Gegenwart - Jörg Djuren

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eine alternative Gesellschaft wird nicht allein dadurch realisierbar, dass institutionelle Machtverhältnisse unterminiert werden, wir brauchen für eine alternative Gesellschaft viel tiefgreifendere Wandlungsprozesse. Subjekt und Gesellschaft bedingen einander und konstituieren sich wechselseitig. Revolutionen werden nicht in einem Augenblick umgesetzt, sondern sind Ergebnisse Jahrhunderte dauernder Auseinandersetzungen. Revolutionen brauchen Geduld und Ausdauer.

      Die bürgerliche Revolution hat nicht nur eine neue Regierungsform geschaffen, sondern ein neues Subjekt und darüber hinaus viele andere grundlegende Veränderungen unseres Verhältnisses zu uns selbst, zur Natur und zur Gesellschaft bewirkt, die vielen heute unkritisch so selbstverständlich erscheinen, als wären sie Natur gegeben und schon 'immer' so gewesen. Z.B.:

      - Die Erfindung des Nationalstaates. Ein zentrales Werkzeug zur Durchsetzung war dabei die Erfindung der Geschichtwissenschaften, denen wesentlich die Konstruktion der Nation als übergeschichtlicher Realität oblag.

      - Die Erfindung der 'romantischen Liebe' und damit einer völligen Neuordnung der Familienbeziehungen (Statt Zweckehe und Zwangsheirat). Hier liegt z.B. ein Teil des revolutionären Potentials der Werke von William Shakespeare.

      - Die Erfindung des Subjektes, des 'Ich', in seiner heutigen Bedeutung. Deutlich z.B. im Werk Albrecht Dürers und der Selbstabbildung in der Position Jesus.

      - Die Erfindung der Kindheit (Siehe - Philippe Ariès - 'Geschichte der Kindheit')

      - Die Erfindung unseres heutigen Konzeptes von Mutterliebe (Siehe - Elisabeth Badinter - 'Die Mutterliebe, Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute')

      - Die Neukonzeption der Geschlechterverhältnisse und die Erfindung eines biologischen Körperselbstbildes (Siehe - Barbara Duden - 'Geschichte unter der Haut' / Thomas Laqueur - 'Auf den Leib geschrieben' / Claudia Honegger - 'Die Ordnung der Geschlechter')

      - Die Neukonzeption des Mensch/Natur-Verhältnisses mit der Durchsetzung des naturwissenschaftlichen Weltbildes und dem technisch/industriellem Zugriff auf Natur.

      - Die Erfindung einer neuen Ästhetik in bildender Kunst und Musik orientiert an mathematischen Idealkonstrukten.

      - ..

      All dies und vieles mehr im Zusammenwirken hat zum Erfolg der bürgerlichen Revolution geführt.

      Zur Durchsetzung des Anarchismus wird es vergleichbar radikaler Wandlungsprozesse bzgl. Subjekt, Gesellschaft und Naturverhältniss bedürfen. Das Private ist politisch muss in einem radikalen Sinn begriffen werden. In diesem Sinn publiziert die HerausgeberInnengemeinschaft Irrliche Texte, die radikal anarchistisch und politisch sind, gerade weil sie oberflächlich nicht politisch sind. Literarische Texte, die versuchen andere Formen von Subjektivität und Gesellschaft zu denken, bzw. die bestehenden Formen zu kritisieren. Die Revolution beginnt beim Subjekt."

      Irrliche-Manifest

      In diesem Buch finden sich kurze Texte, die sich als anarchistische Theorie und Analyse in diesem Sinn begreifen lassen. Sie sind über einen Zeitraum von 20 Jahren entstanden und umfassen ein weites Spektrum an Themen. Allen gemeinsam ist aber der kritisch analytische Standpunkt, der Herrschaftskritik immer auch mit einer kritischen Analyse der Subjektposition verbindet. Die anarchistische Positionierung ist dabei sowohl Ausgangspunkt, als auch Analyserahmen und Zielpunkt.

      Als Theoriehintergründe werden dafür vor allem poststrukturalistische Ansätze und Ansätze aus der feministischen Theorie bzw. kritische Aufgriffe der psychoanalytischen Theorie genutzt.

      In den Texten finden sich aus heutiger Sich auch Irrtümer, Thesen, Analysen, die sich als falsch erwiesen haben. Und doch kann gerade durch die Linse solcher Fehler die Realität um so genauer erfasst werden, stellt jeder Irrtum doch immer auch ein Wissen darüber bereit, dass wichtige Entwicklungen nicht beachtet wurden und verweist auf diese Auslassungen, die dadurch aufgegriffen werden können für zukünftige kritische Analysen.

      Jörg Djuren - Hannover, 2019

Texte zur Kapitalismuskritik

      Fight the MIS

      "Es war (schon) einmal", sagte die Fledermaus.

      "Es war (schon) einmal", sagte die Kirsche.

      "Es war (schon) einmal", sagte die Puppe.

      Doch dann,

      weil es regnete,

      weil die Sonne schien,

      - - - -

      vergaßen sie es.

      Es war (schon) einmal

      Ein Teil des Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit war eine grundlegende Umstrukturierung der Herrschaftsverhältnisse. Die Adelsherrschaft wurde durch den Nationalstaat ersetzt. Nation und Staat waren in dieser Form Neuerfindungen. Das bürgerliche Subjekt, der 'freie' Unternehmer-Mann, löste als Idealfigur die adeligen Vorbilder ab. Das Geschlechterverhältnis und die Reproduktionsverhältnisse wurden neu strukturiert. Die bäuerliche Subsistenzwirtschaft wurde durch die bürgerliche Kleinfamilie ersetzt. Auch unsere heutige Vorstellung von Mutterliebe1 und Kindheit2 wurden erst zu diesem Zeitpunkt entwickelt und Teil der Subjektkonstitution.

      Für Frauen und die nicht so mächtigen Teile der Bevölkerung bedeuteten die Umbrüche eine erhebliche Verschlechterung ihrer Situation. Eigenständige Einkommens- und Lebensmöglichkeiten für Frauen, z.B. Beginenklöster und Frauenzünfte, wurden im Zuge der Inquisition, die als Teil der Modernisierung zu begreifen ist, zerstört und enteignet. Für die kapitalistische Entwicklung war es substantiell sich die reproduktive Arbeit von Frauen umsonst, ideologisiert als Natur der Frau, anzueignen, und Frauen keine Alternative zur Heirat, daß heißt Übereignung an einen Mann, zu lassen. Frauen wurden auch in ihren sexuellen Freiheiten massiv eingeschränkt. So gibt es z.B. aus dem Mittelalter Lieder von Troubaritza (weiblichen Troubadoren)3 in denen sie selbstverständlich für sich sexuelle Bedürfnisse formulieren. So heißt es in einem Lied, schläfst Du mit ihr, schlaf ich auch mit meinem Liebhaber. Für die bürgerliche Frau des 19ten Jahrhunderts wäre eine derartig sexuell selbstbewußte Aussage zumindest öffentlich undenkbar gewesen. Mit dem Umbruch zur Moderne wurde auch Handwerkern der blaue Montag4 und andere erkämpfte Freiräume gestrichen, Arme wurden durch Arbeit in Arbeitshäusern vernichtet, Land das Allgemeingut war, die Almende, wurde zu Gunsten der Besitzenden privatisiert, u.a.5 .

      Das Mittelalter war eine repressive und patriarchale Standesgesellschaft, aber in ihr hatten Frauen und die nicht so mächtigen Gruppen der Bevölkerung für sich bestimmte Freiräume und soziale Absicherungen durchgesetzt. Während es erheblichen Teilen der alten Nomenklatura (Adel, Kirche) gelang ihre Privilegien im Umbruch zur bürgerlichen Gesellschaft in neue Macht (Kapital, Besitz) umzusetzen6 , verschlechterte sich die Lebenssituation für die Mehrheit der Menschen mit wenig Macht und für Frauen mit dem Umbruch zur Neuzeit.

      Mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust der Nationalstaaten, den Veränderungen in Familien- und Arbeitsverhältnissen und der Aufrichtung neuer Machtregime im Geschlechterverhältnis, z.B. durch die Gen- und Reproduktionstechnologien, deutet sich heute ein ähnlich grundlegender Umbruch der Gesellschaftsverhältnisse an.

      Damit stellt sich die Frage was zu erwarten ist und welche Auswirkungen dies für die Möglichkeit anarchistischer, antisexistischer Praxis haben wird?

      Welche

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