Wir statt Gier. Gordon Müller-Eschenbach
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Nehmen Politiker und andere Amtsträger diese Verantwortung nicht wahr, finden die Menschen andere Wege, ihre Wertvorstellungen als Gemeinschaft zu leben und zu verteidigen – wenn nötig an den Scheineliten vorbei. Und das ist gut so, denn ohne diese antiautoritäre gesellschaftliche Dynamik hätten wir in Deutschland längst weit größere Probleme als Finanzkrisen oder überdimensionierte Bahnhöfe.
Schäfchen, allein unter Wölfen
Dass die Deutschen sich keineswegs scheuen, ethische Verstöße auf Instanzenseite abzustrafen, ist in aller Deutlichkeit an den Mitgliedsstatistiken der katholischen Kirche der Jahre 2009 und 2010 ablesbar. Seit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals sind im Jahr 2010 47 Prozent mehr Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten als im Jahr zuvor. Erstmals verließen 2010 innerhalb eines Jahres mehr Angehörige die katholische Kirche, als im selben Zeitraum neu getauft wurden. Das ist nicht nur ein Signal für verfehlte Kirchenpolitik; es ist ein Zeichen eines wachsenden Wertebewusstseins.
Ein abstoßenderes Beispiel für den Missbrauch vermeintlicher moralischer Unantastbarkeit als der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ausgerechnet durch die Hüter der religiösen Moral ist nicht vorstellbar. Insbesondere gilt das im Fall führender Angehöriger einer Glaubensgemeinschaft, die vehement auf die Unantastbarkeit der sexuellen Normierung ihrer Gläubigen pocht. Wo die Mehrzahl der Katholiken sich längst der Wertedynamik einer durch soziale Vernetzung und Heterogenität gekennzeichneten Gesellschaft angeschlossen und nun täglich mit der religiösen Legitimation ihrer Lebensweise zu kämpfen hat, haben die Vorbilder jener Gemeinschaft jahrzehntelang und in massenhaftem Ausmaß selbst die grundlegendsten Werte, die sie ihren Schäfchen predigen, mit Füßen getreten. Es sind keine katholischen Werte, die hier verletzt wurden; es sind grundlegende Werte der Menschlichkeit. Und es sind Werte, die nicht zuletzt in jenen Gesetzen unseres Landes verankert sind, die über alle religiösen und politischen Fragestellungen hinweg zu Recht als unantastbar gelten dürfen.
Die Austrittszahlen aus den katholischen Kirchen könnten böse Zungen als ein weiteres Zeichen für den Werteverfall unserer Gesellschaft deuten. Dass die Zahlen in dieser Dramatik jedoch klar mit dem Missbrauchsskandal in Verbindung gebracht werden können, zeigt, dass es sich um das genaue Gegenteil handelt: Es ist ein Signal für das Wertebewusstsein in unserem Land, und in diesem Fall insbesondere für die Wertetreue einer bestimmten Glaubensgemeinschaft, die im Gegensatz zu ihrer geistigen Führer unkorrumpierbar zu sein scheint. Ähnlich wie bei der Debatte um Zuwanderung und demografische Entwicklungen im Zuge der Sarrazin-Affäre zeigt sich auch hier wieder: Der eigentliche Werteverfall hat nicht aufseiten der Bevölkerung stattgefunden, sondern aufseiten der Instanz, die tatsächlich einer bestimmten Ethik verpflichtet ist und diese aufs Schamloseste für Partikularzwecke missbraucht hat.
Und noch eines zeigt die Statistik: Gäbe es eine Sehnsucht nach „alten Werten“ in unserem Land, müssten die Mitgliedszahlen der katholischen Kirche, oder doch zumindest irgendeiner Kirche, durch die Decke gehen. Das Gegenteil ist der Fall.
Politik ist, wenn die Werte auf Eis liegen
Politische Ämter gehen mit einer klaren Verpflichtung, und nur dieser, einher: die Vielfalt der Bevölkerung eines Landes, von der sie gewählt wird, zu vertreten und die Rahmenbedingungen für ein friedliches gesellschaftliches Miteinander zu schaffen, das den Bewohnern einer freien Gesellschaftsordnung zusteht. Dazu gehört die Verantwortung, sich der werteprogressiven Dynamik zu stellen, die der demografische, soziologische und psychosoziale Wandel jener Gesellschaft mit sich bringt.
Mit anderen Worten: Wenn die Hälfte der Bewohner eines Landes plötzlich beschließt, sich rote Clownsnasen aufzusetzen, dann hat die Politik diese Entscheidung zu respektieren und die Rahmenbedingungen für das Tragen roter Clownsnasen im öffentlichen Raum zu schaffen. Und zwar für die Männer genauso wie für die Frauen.
Klingt banal? Schön wär’s. Das Maximum an Werteperversion, das die deutsche Politik aktuell zu bieten hat, ist der Missbrauch von Werten, die man sich vor Jahrzehnten auf die Fahnen geschrieben hat um zu verhindern, das ein ganz anderer Wandel politisch beachtet wird. Einer, der seitdem notwendig geworden ist, weil die Vorzeichen sich verändert haben. Im Fall der geschassten Gleichstellungsbeauftragten von Goslar wurden Werte, die man als progressiv betrachtet, dazu verwendet, die Beachtung noch weiter fortgeschrittener gesellschaftlicher Entwicklungen im Keim zu ersticken und die verantwortliche Politikerin mit dem Vorwurf der Werterückständigkeit aus dem Amt zu jagen. Klingt kompliziert? Ist es auch – geradezu lächerlich um die Ecke gedacht.
Die ehemalige Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Goslar, Monica Ebeling, hatte sich neben der Gleichstellung von benachteiligten Frauen nämlich auch der Gleichstellung von benachteiligten Männern verpflichtet gefühlt. Grunddemokratisch angesichts der Bezeichnung ihres Postens, sollte man meinen. Ihre Kolleginnen Frauenpolitikerinnen im Stadtrat von Goslar sahen das scheinbar etwas anders und erklärten, Ebeling wolle die „Benachteiligung von Männern aufzeigen und beseitigen – dies ist nicht unser politischer Wille“.
Man darf wohl fragen, was der politische Wille der Zepter schwingenden Politikerinnen von Goslar sein mag. Ein gesellschaftliches Klima, in dem die Männer den Frauen unterzuordnen sind? Das allerdings würde dem Wert der Gleichstellung vehement widersprechen.
Natürlich ist es den Politikerinnen in diesem wie in vielen anderen Fällen von weitaus größerer politischer Tragweite ein leichtes, ihre Handlungsweise pseudoethisch zu argumentieren: Der Wert der Gleichstellung gilt schließlich seit Jahrzehnten als unantastbar (gut soweit) und ist deshalb zum moralinsauren Totschlagargument avanciert. Augenfällig ist in diesem Fall jedoch der Eindruck, dass es bei der Entsorgung der ungeliebten Kollegin um ganz andere Dinge ging als um den Wert der Gleichstellung. Stattdessen ging es scheinbar um die Verhinderung von Gleichstellung so, wie sie im Jahre 2011 in der Stadt Goslar und vielen anderen deutschen Städten notwendig wäre. Gleichstellung, wie sie ethisch korrekt und der gesellschaftlichen Wertedynamik angemessen wäre – aber eben nicht so, wie sie politisch gewollt ist. Dass es bei der Kündigungsaffäre möglicherweise nicht einmal darum ging, sondern um persönliche Differenzen, die mittels politischer Gebietsbereinigung auf dem Rücken der Ethik ausgetragen wurden, spielt da schon beinahe keine Rolle mehr.
Abgeschafft wurde offiziell eine Gleichstellungsbeauftragte, die sich der Gleichstellung verpflichtet fühlte, weil sie gegen das Wertetikett der Gleichstellung aus jenen Zeiten verstoßen hat, in dem Gleichstellung als Legitimationsinstrument bestimmter politischer Gruppen etabliert wurde. Geradezu absurd kompliziert ist das. Geradezu absurd ist das, basta. Wie so viele Wertethemen hinkt eben auch die Gleichstellung in der Politik der gesellschaftlichen Realität um Meilen hinterher – wird aber noch immer inflationär als progressiver Wert hochgehalten, wenn es um die Legitimation von Partikularinteressen politischer Amtsträger geht.
Die Affäre um Monica Ebeling ist an dieser Stelle ein kleines Beispiel für den täglichen Ethikmissbrauch in der Politik. Natürlich gibt es genügend Beispiele mit weitaus dramatischeren Auswirkungen auf Bundesebene. Und doch ist der Fall Goslar in seinem Aberwitz besonders charakteristisch für den Missbrauch von Werten als Feigenblätter rückständiger Politik, weil hier Lokalpolitikerinnen weitgehend unmaskiert ihre Willkür auslebten, die – bis dahin – nicht so stark