Das letzte Bild. Marc Pain
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Und wer stellte schon gerne eine 31-jährige, alleinstehende Mutter, mit geringer Berufserfahrung ein?, fragte ich und war zugleich frustriert. Doch blieb mir nichts anderes übrig. Nach der ersten Kanne Kaffee kochte ich mir eine zweite, und schrieb weitere freie Stellen heraus, um anschließend die Bewerbungsschreiben zu erstellen. Kopien meiner Abschlusszeugnisse und Lebensläufe hatte ich noch zu Genüge vorrätig.
Gegen Mittag machte ich mich auf den Weg in das Einkaufszentrum meines Stadtteils, um Bewerbungsmappen und Versandtaschen zu besorgen. Zwar hätte ich noch einiges an Geld sparen können, wenn ich die Bewerbungen als E-Mail versendet hätte – doch rechnete ich mir so größere Chancen auf ein Bewerbungsgespräch aus. Zudem würde ich nicht einfach im Spamordner eines Großkonzerns landen.
Auf dem Rückweg wollte ich zur Post gehen, um die Bewerbungen frankieren und abschicken zu lassen. Ich besaß zwar einen Führerschein doch konnte ich mir kein eigenes Auto leisten. Somit war ich auf Bus und Bahn angewiesen, was in der Stadt nicht gerade von Nachteil war. In den meisten Fällen war man mit der Bahn weitaus schneller unterwegs, als mit dem Auto. Allein die rücksichtslosen und meist grimmig dreinschauenden Fahrgäste gestalteten das Bus- und Bahnfahren nicht wirklich angenehm.
***
Als mein Sohn am Nachmittag heimkehrte, war er zwar verwundert, aber überglücklich mich anstelle von Anneliese anzutreffen. Ich erzählte ihm, dass ich diese Woche nicht arbeiten musste, weil ich mir freigenommen hatte. Dass wir nun den gesamten Nachmittag und Abend zusammen verbringen würden, erfüllte mich genau so mit Freude wie Aaron. Dennoch plagten mich die Sorgen um das Geld für die bevorstehende Miete, die schon in einer Woche fällig sein würde.
Wenn es nicht anders ging, musste ich Wohl oder Übels Lisa um etwas Geld bitten. Was ich äußerst ungern tat.
Herr Friedrichs hatte mich in der letzten Juniwoche gefeuert und ich traute mich kaum zur Bank zu gehen, um einen Blick auf mein Konto zu riskieren. Mein Sohn hatte sich als Belohnung für seine hervorragende Mathearbeit einen Kinobesuch gewünscht. Er wollte sich zusammen mit mir den neuen Harry-Potter-Film anschauen. Ich hab ihm alle Bücher vorgelesen und wir hatten bereits die ersten beiden Filme zusammen gesehen.
In der ersten Woche lag keine Post in meinem Briefkasten. Es hätte mich gewundert, wäre dem nicht so gewesen. Trotzdem schaute ich jeden Tag nach, ob nicht doch eine Antwort auf eine meiner Bewerbungen eingegangen war. Morgen, am Samstag, wollten Aaron und ich ins Kino gehen und ich MUSSTE daher zu meiner Bank und einen Blick auf mein Konto werfen.
***
Es war kurz nach 22 Uhr - mein Sohn lag bereits im Bett. Ich zog mir meine schwarzen Stiefel und den langen braunen Mantel an. Leise schloss ich die Wohnungstür und schritt die Stufen des Treppenhauses hinab. Um zur Bank zu gelangen, musste ich ein kurzes Stück durch einen Park gehen und an einer kleinen Kirche vorbei. Ich hörte den Gospelchor, der ein fröhliches Lied sang. Der Gesang drang durch die geöffneten Flügeltüren nach draußen. Zuletzt musste ich noch eine Ampel überqueren. Während ich am Straßenrand stand und darauf wartete, dass es endlich grün wurde, kam ein älterer Mann dazu und stellte sich ungewöhnlich nah an mich heran. Aus dem Augenwinkel beäugte ich den Herrn, der einen aschgrauen Tweedmantel trug und seine Hände in dessen Taschen verbarg. Sein Mund wurde von einem bordeauxroten Schal verdeckt, den er um den Hals trug. Weil es mir unangenehm war, wie nah er an mich herangetreten war, wich ich einige Schritte zur Seite. Als die Ampel auf Grün sprang und ich einen Fuß auf die Straße setzen wollte, sprach er zu mir: »Quin ultimum simulacrum!«
Ich sah den Fremden verdutzt an. Soweit ich mich nicht irrte, sprach er Latein. Aber warum, und was hatte das zu bedeuten? Ich kannte diesen Mann nicht, dessen war ich mir sicher. Gerade wollte ich fragen, was die Worte zu bedeuten hatten, als er sich umdrehte und einfach wegging. Ich überquerte die Straße, ohne zur Kenntnis genommen zu haben, dass die Ampel mittlerweile wieder auf Rot gesprungen war. Das laute Hupen eines Autos, das nur knapp vor meinem linken Bein zum Stehen kam, ließ mich zusammenschrecken. Was der aufgebrachte Fahrer mir aus dem geöffneten Fenster zugeschrien hatte, vernahm ich nicht mehr und huschte verschreckt über die Straße.
Wer war der geheimnisvolle Mann? Was hatte seine Worte zu bedeuten? Hatte er wirklich mit mir gesprochen?
Ich war verwirrt.
Als ich die Karte in den Bankautomaten schob und meinen Kontostand abfragte, wurde diese Woche noch schlimmer, was ich kaum für möglich gehalten hatte. Minus 329 Euro zeigte mir das Display an und ich steckte meine Karte in den Kontoauszugsautomaten, um zu sehen, was dieses dicke Minus verursacht hatte.
Vor zwei Wochen hatte ich eine neue Waschmaschine im Internet bestellen müssen und hatte erst im nächsten Monat mit der Abbuchung gerechnet. Wie ich jetzt mit Aaron ins Kino gehen sollte, war mir völlig unklar. Keinen Job mehr, ein dickes Minus auf dem Kontoauszug und ein Fremder, der mir eine Heidenangst eingejagt hatte. Was war nur los?
***
Ich drückte die Klingel mit der Aufschrift: Meyer und nach nur wenigen Sekunden wurde der Türsummer betätigt. Lisa schaute, mit nur einem Bein im Hausflur stehend, aus der geöffneten Wohnungstür heraus und begrüßte mich mit einem warmen Lächeln.
»Es tut mir leid, dass ich so unangemeldet vorbeischneie, doch weiß ich nicht mehr was ich machen soll.«
»Du musst dich nicht entschuldigen – komm schon rein!«
Ich erzählte ihr von dem Kontostand und das ich Aaron den Kinobesuch versprochen hatte. Es tat mir im Herzen weh, dass das Glück meines Sohnes auf dem Spiel stand.
»Wegen des Kinobesuchs brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich werde dir das Geld dafür geben.«
Wohl fühlte ich mich dabei nicht, Geld von Lisa annehmen zu müssen. Als Friseurin hatte sie nicht gerade reichlich Geld zur Verfügung. Doch wollte ich meinem Sohn auf keinen Fall den Kinobesuch verwehren. Ich blieb noch eine knappe Stunde bei meiner besten Freundin und sie schaffte es erneut mir Hoffnung und Mut zu machen.
Zu Hause schaute ich noch einmal in mein E-Mail-Postfach, doch auch hier waren keine Antworten, auf meine Online-Bewerbungen eingegangen. Ich hatte nicht alle Bewerbungen auf dem Postweg versendet. Das hätte den finanziellen Rahmen gesprengt, der mir ohnehin nicht zur Verfügung stand.
***
Mit dem Geld, welches ich von Lisa bekommen hatte, gingen Aaron und ich am nächsten Tag ins Kino und danach noch in ein kostengünstiges Restaurant. Mein Sohn genoss die Zeit mit mir und ich hätte es auch so gern getan. Jedoch ließen meine Sorgen und quälenden Gedanken dies nicht zu. Das wollte ich Aaron nicht spüren lassen und glücklicherweise gelang mir dies recht gut.
Am Sonntag übernachtete Aaron bei einem Freund, da seine Schule ab dem folgenden Montag in die Sommerferien ging. Ich genehmigte mir wieder einmal zu viele Gläser Sekt und stieß beim Durchsuchen mehrerer Internetportale, auf eine vielversprechende Kleinanzeige. Der Titel der Anzeige lautete: 63-jähriger Mann sucht zuverlässige Haushaltshilfe gegen gute Bezahlung.
Vielversprechend aber auch vielsagend. Ich las mir den kurzen Anzeigetext durch.
Ich, 63 Jahre alt, habe ein großes Anwesen mit Grundstück am Stadtrand (genauere Adressdaten bei Interesse), dem ich allein nicht mehr Heer werde.