Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

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Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon

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Beschwerden nicht verschwunden. Lag es am Ende doch daran, dass sie die Tabletten nicht eingenommen hatte, die er ihr verschrieben hatte? Sie hatte sein Rezept in Wahrheit noch nicht einmal in der Apotheke eingelöst. Sie trug es noch immer irgendwo in ihrer Handtasche mit sich herum. Tilda mochte keine Tabletten. Seit Jahren hatte sie keine Medikamente mehr angerührt. Ihr Misstrauen gegen diese chemischen Mittel war zu groß. Das hatte seinen Grund in der Vergangenheit.

      Damals, vor vielen Jahren, als sie etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen war, hatte sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Doro, die eigentlich Dorothea hieß, auf einer Zugfahrt von Hamburg nach Köln eine Frau kennengelernt. Ihre Mutter hatte sich die ganze Zeit über angeregt mit ihr unterhalten. Die Frau war sehr groß und sehr schlank gewesen. Sie trug ein helles Kostüm. Tilda konnte sich auch heute noch gut an sie erinnern. Die fremde Frau hatte wunderschönes, kupferrotes, Haar, das ihr bis auf die Schultern herabfiel. Sie mochte so etwa vierzig Jahre alt gewesen sein. Ihre grünen Augen strahlten und ihr Gesicht war über und über mit winzigen, hellbraunen Sommersprossen bedeckt gewesen. Sie lachte oft, wenn sie sprach. Es stellte sich bald heraus, dass die Frau für einen großen Pharmakonzern arbeitete. Sie erzählte ihrer Mam, sie stünde dort an einer Maschine, mit der Schmerztabletten hergestellt wurden. Auf der einen Seite müsse sie die Säcke mit dem Pulver für die Tabletten in einen großen Trichter hineingeben. Auf der anderen Seite der Maschine fielen dann die fertig gepressten Tabletten heraus. So zumindest hatte Tilda die Schilderung der Frau in Erinnerung. Auf die neugierige Frage ihrer Mutter, ob sie durch ihre Arbeit an der Tablettenmaschine auch privat schneller zu Medikamenten greifen würde, hatte die fremde Frau ihre Augen entsetzt aufgerissen. Sie hatte ihre Hände abwehrend ausgestreckt und gesagt: „Wie bitte? Ich? Um Gottes willen! Nein! Ich nehme doch nie Tabletten. Niemals! Ich weiß doch, was da drin ist!“ Tilda hatte die Worte und das entsetzte Gesicht der Frau nie vergessen. Für sie und ihre ältere Schwester Doro hatte die Aussage der Fremden gravierenden Folgen, wie sie beide unabhängig voneinander später feststellten. Die Reaktion und der Satz dieser Frau hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Die Schwestern hatten sich lange Zeit gefragt, welches Gift es wohl sein mochte, das in den Tabletten steckte. Diese Frau musste es schließlich wissen. Wie das Medikament hieß, erfuhren sie nie. Doch als Kinder glaubten sie, dass es sich bei den Tabletten um ein furchtbares Gift handeln musste.

      Die Anzahl der Medikamente, die Tilda seit der Begegnung von damals eingenommen hatte, ließ sich vermutlich an einer Hand abzählen. Bei ihrer Schwester Doro war es ähnlich. Nur ihre Mutter schien das Gespräch mit der Frau schon bald vergessen zu haben. Sie war nicht so kleinlich, wenn es darum ging, ihre Beschwerden mit Chemie zu bekämpfen. Momentan schien es so, als würde ihr Körper die chemischen Mittel auch noch tolerieren. Aber das konnte sich schnell ändern. Irgendwann würde das Fass möglicherweise überlaufen. Tilda war in Sorge um ihre Mutter und auch um ihren Vater, der ähnlich entspannt mit dem Thema umging.

      Sie selbst jedenfalls hielt verbissen an ihrem Entschluss von damals fest. Sie wollte keine Tabletten einnehmen. Irgendwann würde diese lästige Übelkeit schon vergehen, auch ohne Medikamente. Doch Tilda musste zugeben, dass sie das Warten auf eine harte Probe stellte, das es sie zermürbte. Trotzdem war sie nicht bereit, ihren Grundsatz von damals zu opfern. Sie hatte sich entschlossen, die Beschwerden lieber aushalten, auch wenn sie überaus lästig waren. Sie wollte die Krankheit, was auch immer es war, lieber aussitzen, als sich mit Chemie vollzustopfen und alles damit vielleicht noch schlimmer zu machen. Wer wusste denn schon, welche anderen Folgen die Tabletteneinnahme möglicherweise für sie haben würde? Trotz ihrer Entschlossenheit war Tilda sehr gereizt. Auf die Dauer zerrte der schwer erträgliche Zustand an ihren Nerven. Und nun kam auch noch das scheinbar immer drastischer werdende Geschnarche von Ludwig hinzu. Früher hatte sie versucht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Jetzt hatte sie einfach keine Kraft mehr dafür und war wütend.

      Tilda fühlte sich schwindelig an diesem Morgen. Sie saß noch immer im Badezimmer auf dem kleinen Hocker. Sie musste sich dazu zwingen, sich zu erheben. Matt schlich sie sich noch einmal zurück ins Schlafzimmer. Zehn Minuten wollte sie sich noch gönnen. Nach dieser Nacht fühlte sie sich vollkommen ausgelaugt. Jetzt, nachdem sie aufgestanden war, machte sich das noch viel stärker bemerkbar. Einen Moment lang zweifelte sie daran, ob sie in der Lage sein würde, arbeiten zu gehen. Beinahe geräuschlos legte sich dann noch einmal auf ihr Bett. Neben ihr schnarchte Ludwig noch immer. Tilda war sauer auf ihn.

      Sie nahm sich vor, ihm ein Ultimatum zu stellen. Er würde die Wahl haben zwischen einem Termin beim Hals-Nasen-Ohrenarzt oder ab sofort allein schlafen. So einfach war das. Wenn er sich nicht zu Maßnahmen durchringen konnte, dann musste sie das tun. Es musste auf jeden Fall etwas geschehen. Möglicherweise war sein Schnarchen krankhaft und hatte Ursachen, die gefährlich waren. Leider war Ludwig das ziemlich egal. Tilda konnte das nicht verstehen. Sie versuchte immer alles, um sich Krankheiten vom Leib zu halten. Bisher hatte das auch gut funktioniert. Nur jetzt, bei dieser merkwürdigen Übelkeit, die kam und ging wann sie wollte, hatte sie mit keinem ihrer vielen Hausmittel Erfolg gehabt. Es war frustrierend. Und gerade sie, die immer so auf ihre Gesundheit und ihre gesunde Ernährung bedacht war, musste sich jetzt mit so etwas herumplagen. Ludwig hatte nur gegrinst. Er aß im Gegensatz zu ihr tonnenweise Fast Food und trank dazu Cola in atemberaubenden Mengen. Ungerechterweise war er, bis auf die Sache mit dem Schnarchen, offenbar auch noch gesund dabei. Sie hingegen hielt sich an alle Gesundheitsregeln und war krank. Das war einfach nur ungerecht. Es war ungerecht und frustrierend.

      Tilda erinnerte sich daran, dass ihre Großmutter früher immer gesagt hatte: „Wenn man zu viel über Krankheiten nachdenkt, dann zieht man sie herbei.“ Genau davon war Tilda auch überzeugt. Ihre Großmutter war mit ihren Gesundheitsregeln ziemlich alt geworden. Die meiste Zeit über war sie dabei gesund gewesen. So falsch konnten ihre Ansichten also nicht gewesen sein. Sie war auch immer zutiefst davon überzeugt gewesen, dass das, was von allein kam, auch wieder von allein ging. Bei ihr selbst hatte diese Theorie fast immer funktioniert, bis auf den Schlaganfall, der ihr schließlich ganz plötzlich den Tod gebracht hatte.

      Verunsichert war Tilda inzwischen trotzdem. Trotz ihrer optimistischen Einstellung wollten sich ihre lästigen Beschwerden durch nichts vertreiben lassen. Noch nicht einmal durch ihre zuversichtliche Einstellung, die sonst immer geholfen hatte. Diesmal funktionierte einfach gar nichts. Immer, wenn es ihr ein wenig besser ging und sie sich darüber freute, ging es ihr am nächsten Tag wieder schlechter. Es war wie verhext. Fünf Kilo hatte sie deshalb schon abgenommen. Ganz allein wegen dieser blöden Sache. Sie trauerte den Kilos zwar nicht hinterher, denn es waren an den Hüften und Oberschenkeln durchaus noch einige übrig, von denen sie sich gern getrennt hätte. Aber Tilda fand, dass es einen großen Unterschied machte, ob sie den Gewichtsverlust gewollt herbeigeführt hatte oder ob sich ihr Körpergewicht von allein immer weiter verringerte. So, wie es momentan war, machte es ihr Angst.

      War möglicherweise tatsächlich etwas Schwerwiegendes mit ihr nicht in Ordnung? Dr. Pfeifer hatte zwar Entwarnung gegeben, aber was wäre, wenn er sich geirrt hätte? Bei diesem Gedanken fühlte sie sich sehr unwohl. Ein Anflug von Panik kam in ihr auf. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. In ihrem Kopf entstand ein Druck, der ihr die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Ganz so entspannt, wie noch vor einigen Wochen, konnte sie das alles inzwischen nicht mehr sehen.

      Aus dem nahen Fliederbaum kam plötzlich lautes, hektisches Vogelgeschrei. Eine Art von unartikuliertem Gekreische war zu hören, das sich langsam entfernte. Draußen wurde es grün. Der Mai war tatsächlich gekommen. Tilda freute sich. Sie erhob sich erneut und blickte einen Moment lang aus dem Fenster in den bereits grünen Innenhof. Alles war noch so hell, so neu und so sauber. Der lange, graue Winter schien endgültig vorbei zu sein. Und auch das nasskalte Frühjahr, das in diesem Jahr überhaupt nicht einladend gewesen war, lag hinter ihr. Tilda mochte den Sommer mehr. Das war wahrlich kein Wunder. Schließlich mochten fast alle Menschen den Sommer mehr. Doch in diesem Jahr war ihre Freude gedämpft. Sie war bedrückt. Irgendetwas war mit ihr geschehen. Es war ein schreckliches Gefühl, das zu spüren und nicht zu wissen, was der Grund dafür war. Schon wieder machte sich Angst in ihr breit. Diese Angst machte alles nur noch schlimmer. Tilda wollte das nicht. Alles in ihr sträubte

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