Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi

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Gebilde von weißen Lämmerwölkchen erblickte, das, einer Perlmuttermuschel ähnlich, gerade über seinem Kopfe mitten am Himmel stand. ›Wie entzückend alles in dieser wundervollen Nacht ist! Wann hat sich nur diese Muschel gebildet? Ich habe doch noch eben erst zum Himmel hinaufgesehen, und da war an ihm nichts vorhanden als zwei weiße Streifen. Ja, ganz ebenso unvermerkt haben sich auch meine Lebensanschauungen geändert!‹

      Er verließ die Wiese und schritt auf dem breiten Landwege dem Dorfe zu. Ein leichter Wind erhob sich, und der Himmel wurde grau und düster. Es kam jetzt die trübe Spanne Zeit, die gewöhnlich der Morgendämmerung und dem vollen Siege des Lichtes über die Finsternis vorangeht.

      Vor Kälte sich ein wenig zusammenkrümmend, den Blick auf den Boden geheftet, schritt Ljewin hurtig aus. ›Was ist das? Da kommt jemand gefahren!‹ dachte er, als er Schellengeläute hörte, und hob den Kopf in die Höhe. Etwa noch vierzig Schritte von ihm entfernt kam ihm auf dem breiten, grasigen Fahrwege, auf dem er ging, ein vierspänniger Wagen entgegen, auf dem er mehrere Koffer erblickte. Die Deichselpferde drängten von den Geleisen nach der Deichsel zu; aber der geschickte Kutscher, der seitwärts auf dem Bocke saß, hielt die Deichsel zwischen den Geleisen, so daß die Räder auf den glatten Streifen liefen.

      Weiter hatte Ljewin auf nichts geachtet und blickte nun zerstreut in den Wagen hinein, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wer da wohl gefahren kam.

      In einer Ecke des Wagens schlief eine alte Dame; am Fenster aber saß ein junges Mädchen, das offenbar eben erst aufgewacht war und mit beiden Händen die Bänder eines weißen Häubchens angefaßt hielt. Hellen, sinnenden Blicks, ganz erfüllt von einer schönen, bunten, inneren Gedankenwelt, die Ljewin fremd war, schaute sie über ihn hinweg in die Morgenröte.

      Gerade in dem Augenblicke, da diese Erscheinung bereits verschwand, blickten die treuherzigen Augen des jungen Mädchens ihn an. Sie erkannte ihn, und ein frohes Erstaunen leuchtete auf ihrem Gesichte auf.

      Er konnte sich nicht irren. Solche Augen gab es nur einmal auf der Welt. Es gab auf der ganzen Welt nur ein Wesen, das imstande war, für ihn alles Licht und seinen gesamten Lebensinhalt in sich zusammenzudrängen. Das war sie. Das war Kitty. Er sagte sich sofort, daß sie auf der Fahrt von der Eisenbahnstation nach Jerguschowo begriffen sei. Und alles, was ihn in dieser schlaflosen Nacht so erregt hatte, alle die Entschlüsse, die er gefaßt hatte, das alles war in einem Nu verschwunden. Nur mit Widerwillen erinnerte er sich an seinen Gedanken, ein Bauernmädchen zu heiraten. Dort allein, in diesem Wagen, der sich schnell entfernte und eben nach der andern Seite des Weges hinüberfuhr, dort allein war für ihn die Möglichkeit einer Lösung seines Lebensrätsels, das in der letzten Zeit mit so peinvollem Druck auf ihm gelastet hatte.

      Sie hatte nicht mehr aus dem Wagen herausgeschaut. Das Geräusch der Federn des Wagens war nicht mehr vernehmbar; kaum konnte Ljewin noch das Schellengeklingel hören. Hundegebell ließ ihn erkennen, daß der Wagen durch das Dorf fuhr – und nun waren wieder rings um ihn nur die menschenleeren Felder, vor ihm das Dorf, und er selbst, ein einsamer Fremdling, wanderte allein auf dem verwahrlosten, breiten Landwege dahin.

      Er blickte zum Himmel hinauf, in der Hoffnung, dort noch jene Muschel wiederzufinden, die er mit solcher Freude betrachtet hatte und die ihm eine Art von Sinnbild seines Denkens und Empfindens in dieser Nacht gewesen war. Aber am Himmel war nichts zu sehen, was mit einer Muschel Ähnlichkeit gehabt hätte. Dort in der unerreichbaren Höhe war bereits eine geheimnisvolle Veränderung vorgegangen. Von der Muschel war keine Spur mehr vorhanden, sondern über die ganze eine Hälfte des Himmels breitete sich ein gleichmäßiger Teppich immer kleiner und kleiner werdender Lämmerwölkchen aus. Der Himmel war blau und hell geworden und antwortete auf seinen fragenden Blick ebenso freundlich, aber auch ebenso unnahbar wie vorher.

      ›Nein‹, sagte er sich, ›mag auch dieses einfache, arbeitsvolle Leben noch so schön sein, ich kann doch zu diesem Gedanken nicht zurückkehren. Sie liebe ich, sie!‹

      13

      Niemand außer den Allernächststehenden wußte, daß Alexei Alexandrowitsch, anscheinend ein so kühler Verstandesmensch, eine Schwäche hatte, die mit seinem ganzen sonstigen Wesen im Widerspruch zu stehen schien: er konnte es nicht ruhig mit anhören und mit ansehen, wenn ein Kind oder eine Frau weinte. Der Anblick von Tränen machte ihn verwirrt, und er verlor dann vollständig die Fähigkeit vernunftmäßiger Überlegung. Sein Subdirektor und sein Sekretär wußten das und warnten Bittstellerinnen, sie möchten unter keinen Umständen weinen, wenn sie nicht ihre ganze Sache verderben wollten. ›Er wird dann zornig und hört sie gar nicht weiter an‹, sagten sie zu solchen Damen. Und in der Tat bekundete sich in solchen Fällen die seelische Verstimmung, die bei Alexei Alexandrowitsch durch die Tränen hervorgerufen war, durch einen plötzlichen Zornesausbruch. ›Ich kann dabei nichts tun! Bitte, gehen Sie!‹ rief er in solchen Fällen gewöhnlich.

      Als Anna auf der Heimfahrt vom Wettrennen ihm ihre Beziehungen zu Wronski aufgedeckt hatte und unmittelbar darauf das Gesicht in den Händen verbarg und in Tränen ausbrach, da fühlte Alexei Alexandrowitsch trotz des Ingrimms, der in seinem Herzen gegen sie aufwallte, doch gleichzeitig, daß wieder jene seelische Verwirrung über ihn kam, die Tränen stets bei ihm hervorriefen. Da er dies wußte und sich bewußt war, daß er in diesem Augenblicke nicht imstande sei, seine Gefühle in einer der Lage entsprechenden Weise zum Ausdruck zu bringen, so gab er sich Mühe, jede Lebensäußerung zurückzuhalten, und deshalb rührte er sich nicht und sah Anna nicht an. Und daher kam denn auch der sonderbare, leichenhafte Ausdruck seines Gesichtes, der Anna so betroffen machte.

      Als sie bei dem Landhause angelangt waren, half er ihr beim Aussteigen aus dem Wagen, zwang sich dazu, mit gewohnter Höflichkeit von ihr Abschied zu nehmen, und sagte ihr einige Worte, durch die er sich in keiner Weise band: er sagte, er werde ihr am folgenden Tage seinen Entschluß mitteilen.

      Die Worte seiner Frau, die seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten, hatten Alexei Alexandrowitschs Herz sich in furchtbarem Schmerze zusammenziehen lassen. Diesen Schmerz steigerte noch das durch ihre Tränen bei ihm hervorgerufene sonderbare Gefühl eines physischen Mitleids mit ihr. Aber als Alexei Alexandrowitsch im Wagen allein geblieben war, fühlte er zu seiner Verwunderung und Freude eine vollständige Befreiung sowohl von diesem Mitleid wie auch von den Zweifeln und den Qualen der Eifersucht, die ihn in der letzten Zeit gepeinigt hatten.

      Er hatte eine ähnliche Empfindung wie jemand, der sich einen Zahn, der ihn lange geschmerzt hat, endlich hat ausziehen lassen. Nach einem furchtbaren Schmerze und nach einer Empfindung, als werde etwas ungeheuer Großes, größer als der Kopf selbst, aus seiner Kinnlade herausgerissen, fühlt der Patient, der an sein Glück noch gar nicht recht zu glauben wagt, auf einmal, daß das, was ihm so lange das Leben verbitterte und ihn an nichts anderes denken ließ, nicht mehr in seinem Munde vorhanden ist und daß er wieder leben und denken und sich wieder für andere Dinge, als immer nur für seinen Zahn, interessieren kann. Eine derartige Empfindung machte Alexei Alexandrowitsch durch. Der Schmerz war seltsam und furchtbar gewesen; aber jetzt war er vorbei; Alexei Alexandrowitsch fühlte, daß er wieder leben könne, ohne immer nur an seine Frau zu denken.

      ›Ein verworfenes Weib ohne Gefühl für Ehre und Anstand, ohne Herz, ohne Religion! Das habe ich immer gewußt und immer gesehen, obgleich ich aus Mitleid mit ihr mir Mühe gab, mich selbst zu täuschen‹, sagte er zu sich. Und er hatte wirklich die Vorstellung, daß er das immer gesehen habe; er erinnerte sich an kleine Vorfälle aus den früheren Zeiten der Ehe, die ihm damals nicht als etwas Schlimmes erschienen waren; jetzt aber bewiesen diese Vorfälle deutlich, daß sie von jeher ein grundschlechtes Weib gewesen war. ›Ich bin in einem Irrtum befangen gewesen, als ich mein Leben mit dem ihrigen verknüpfte; aber in meinem Irrtum liegt nichts moralisch Schlechtes, und daher kann ich nicht unglücklich sein. Nicht ich bin schuldig‹, sagte er zu sich, ›sondern sie. Aber ich habe mit ihr nichts mehr zu tun. Sie ist für mich nicht

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