Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi
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»Ich glaube, daß du mich nicht lieben kannst. Womit könnte ich es denn verdienen, daß du mich liebtest?«
»Mein Gott, was soll ich nur tun?« sagte sie, in Tränen ausbrechend.
»Ach, was habe ich angerichtet!« rief er, fiel vor ihr auf die Knie und bedeckte ihre Hände mit Küssen.
Als die Fürstin fünf Minuten darauf ins Zimmer trat, fand sie das junge Paar schon vollständig versöhnt. Kitty hatte ihn nicht nur zu der Überzeugung gebracht, daß sie ihn liebe, sondern sogar in Beantwortung der Frage, weswegen sie ihn liebe, ihm die Gründe ihrer Liebe dargelegt. Sie hatte ihm gesagt, sie liebe ihn, weil sie ihn ganz verstehe und weil sie wisse, was er lieben müsse, und weil alles, was er liebe, gut sei. Und diese Begründung war ihm vollständig klar erschienen. Als die Fürstin zu ihnen hereinkam, saßen sie nebeneinander auf dem Koffer, durchsuchten die Kleider und stritten sich, weil Kitty das braune Kleid, das sie getragen hatte, als Ljewin ihr seinen Antrag machte, an Dunjascha verschenken wollte, Ljewin aber darauf bestand, dieses Kleid dürfe überhaupt an niemand weggegeben werden, und sie solle Dunjascha das blaue schenken.
»Aber daß du das nicht begreifen kannst! Sie ist ja brünett, und das wird ihr nicht stehen ... Ich habe mir das alles überlegt.«
Als die Fürstin hörte, warum er eigentlich gekommen war, wurde sie halb im Scherz, halb im Ernst böse und schickte ihn nach Hause, damit er sich umkleide und Kitty nicht beim Frisieren störe, da Herr Charles jeden Augenblick kommen müsse.
»Sie hat sowieso schon alle diese Tage über nichts gegessen und ein schlechtes Aussehen bekommen, und nun machst du ihr noch Unruhe mit deinen Torheiten«, sagte sie zu ihm. »Mach, daß du wegkommst, mach, daß du wegkommst, lieber Freund!«
Schuldbewußt und beschämt, aber beruhigt kehrte Ljewin in sein Hotel zurück. Sein Bruder, Darja Alexandrowna und Stepan Arkadjewitsch, alle bereits in voller Festkleidung, warteten schon auf ihn, um ihn mit dem Heiligenbilde zu segnen. Es war jetzt keine Zeit mehr zu verlieren. Darja Alexandrowna mußte noch einmal nach ihrer Wohnung fahren, um ihren Sohn abzuholen, der, schön pomadisiert und mit gebrannten Löckchen, dazu bestimmt war, das Heiligenbild vor der Braut herzutragen. Dann mußte der eine Wagen geschickt werden, den Hochzeitsmarschall zu holen, und der andere, mit dem Sergei Iwanowitsch fahren sollte, nachher zurückgesandt werden ... Überhaupt waren da viele höchst verwickelte Erwägungen nötig. Eins aber stand fest: daß man sich nicht lange aufhalten durfte, denn es war schon halb sieben.
Das Segnen mit dem Heiligenbilde war nicht sehr wirkungsvoll. Stepan Arkadjewitsch stellte sich in komisch feierlicher Haltung neben seiner Frau auf, nahm das Heiligenbild, hieß Ljewin sich bis zur Erde verneigen, segnete ihn mit einem gutmütigen, etwas spöttischen Lächeln und küßte ihn dreimal. Das gleiche tat dann auch Darja Alexandrowna und fuhr darauf schleunigst ab, nachdem sie vorher den für die Wagen festgesetzten Fahrplan schnell noch einmal wieder umgestoßen hatte.
»Nun, dann wollen wir es so machen: bringe du ihn in unserm Wagen hin, und Sergei Iwanowitsch ist wohl so gut, zum Hochzeitsmarschall zu fahren und uns nachher den Wagen zu schicken.«
»Schön, sehr gern.«
»Ich fahre sofort mit ihm hin. Ist dein Gepäck schon weggeschafft?« fragte Stepan Arkadjewitsch.
»Jawohl, jawohl«, antwortete Ljewin und befahl Kusma, ihm beim Ankleiden behilflich zu sein.
3
Eine große Volksmenge, namentlich aus Frauen bestehend, umgab das Tor der für die Trauungsfeier hell erleuchteten Kirche. Die nicht weit genug nach der Mitte hatten vordringen können, drängten sich um die Fenster und blickten, einander stoßend und sich zankend, durch deren Gitter.
Mehr als zwanzig Wagen bildeten bereits auf der Straße nach Anweisung der Schutzleute eine lange Reihe. Ein Polizeioffizier stand, ohne Rücksicht auf die starke Kälte, in glänzender Uniform ohne Mantel am Eingang. Unaufhörlich kamen noch mehr Wagen vorgefahren, und blumengeschmückte Damen, die Schleppen mit der Hand tragend, und Herren, die Uniformmützen oder die schwarzen Hüte abnehmend, traten in die Kirche ein. In der Kirche waren bereits beide Kronleuchter und sämtliche Kerzen vor den Heiligenbildern angezündet. Die goldenen Heiligenscheine auf dem roten Untergrunde des Ikonostas, das Silber der Kronleuchter und Armleuchter und die Fliesen des Fußbodens und die Teppiche und die Kirchenfahnen auf den Chorestraden und die Altarstufen und die alten, schwarz gewordenen Bücher und die Leibröcke und die Chorhemden – alles war von Licht übergossen. Auf der rechten Seite der Kirche, in dem bunten Gewühl von Fräcken und weißen Halsbinden, von Uniformen und samtenen und seidenen Damenkleidern, Haaren, Blumen, entblößten Schultern und Armen und hoch hinaufreichenden Handschuhen, wurden mit gedämpfter Stimme lebhafte Gespräche geführt, die in der hohen Kuppel einen seltsamen Widerhall erweckten. Jedesmal, wenn der kreischende Ton der sich öffnenden Kirchtür sich vernehmen ließ, verstummte das Gespräch in dem dichten Schwarm, und alle schauten sich um in der Erwartung, das eintretende Brautpaar zu erblicken. Aber die Tür hatte sich schon mehr als zehnmal geöffnet, und jedesmal war es entweder ein verspäteter Gast, Herr oder Dame, gewesen, der sich dann auf der rechten Seite zu der Gruppe der Eingeladenen gesellte, oder eine Zuschauerin, die den Polizeioffizier zu täuschen oder auch zu erweichen gewußt hatte und sich nun dem links stehenden Haufen der fremden Teilnehmer anschloß. Die Hochzeitsgesellschaft sowohl wie die Fremden hatten bereits alle Stufen der Erwartung durchgemacht.
Anfänglich hatte man gemeint, der Bräutigam und die Braut müßten ja jeden Augenblick kommen, und hatte dieser Verspätung weiter keine Bedeutung beigemessen. Darauf hatte man angefangen, immer häufiger nach der Tür hinzusehen und darüber zu reden, ob auch nicht etwas vorgefallen sei. Dann aber wurde diese Verspätung allmählich peinlich, und die Verwandten und Gäste suchten sich den Anschein zu geben, als dächten sie gar nicht an den Bräutigam und seien ganz mit ihren Gesprächen beschäftigt.
Der Protodiakon, wie um daran zu erinnern, daß seine Zeit kostbar sei, hustete ungeduldig, so daß die Fensterscheiben zitterten. Man hörte, wie auf der Chorestrade die gelangweilten Sänger bald ihre Stimme probierten, bald sich schneuzten. Der Geistliche schickte unaufhörlich bald den Küster, bald den Diakon hinaus, um nachzusehen, ob der Bräutigam noch nicht gekommen sei, und trat selbst in seinem lila Meßgewand mit dem gestickten Gürtel immer häufiger in Erwartung des Bräutigams an die Seitenpforte. Endlich sagte eine der Damen nach einem Blick auf die Uhr: »Das ist aber wirklich seltsam!« und alle Gäste gerieten in Unruhe und begannen ihrer Verwunderung und ihrer Unzufriedenheit lauten Ausdruck zu geben. Einer der Brautführer fuhr hin, um nachzuforschen, was denn vorgefallen sei. Unterdessen stand Kitty, schon längst völlig fertig, in weißem Kleide, langem Schleier und einem Kranze aus Orangenblüten, mit ihrer Schwester, Frau Lwowa, die als Brautmutter walten sollte, in dem Saale des Schtscherbazkischen Hauses, blickte durchs Fenster und wartete schon seit mehr als einer halben Stunde vergeblich darauf, daß ihr Brautführer ihr die Nach richt von der Ankunft des Bräutigams in der Kirche bringe.
Inzwischen ging Ljewin in Beinkleidern, aber ohne Weste und Frack, in seinem Hotelzimmer auf und ab, steckte alle Augenblicke den Kopf aus der Tür und blickte den Flur entlang. Aber von dem, den er erwartete, war auf dem Vorsaal nichts zu sehen, und verzweifelt mit den Armen in der Luft umherfahrend, wandte sich Ljewin zu Stepan Arkadjewitsch, der mit Seelenruhe rauchte.
»Ob sich wohl jemals ein Mensch in einer so entsetzlichen, albernen Lage befunden hat!« sagte er.
»Ja, es ist eine dumme Geschichte!« stimmte ihm Stepan Arkadjewitsch bei und lächelte ihn besänftigend an. »Aber beruhige dich; er wird es ja den Augenblick bringen.«
»Jawohl, er wird!«