Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi
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»Dann ziehst du das von mir an.«
»Das hätte ich schon längst tun sollen.«
»Habe dich doch nicht so komisch! ... Warte nur, es zieht sich alles zurecht.«
Die Sache war nämlich folgende: Als Ljewin sich zur Trauung anziehen wollte, hatte ihm sein alter Diener Kusma Frack, Weste, und was sonst nötig war, hereingebracht.
»Aber wo hast du das Hemd?« hatte Ljewin gerufen.
»Das Hemd haben Sie ja an«, hatte Kusma mit ruhigem Lächeln erwidert.
Ein reines Hemd zurückzulassen, daran hatte Kusma gar nicht gedacht, und als ihm befohlen worden war, alles einzupacken und zu Schtscherbazkis zu schaffen, von wo das junge Paar am Abend dieses Tages abreisen sollte, da hatte er es auch so gemacht und alles mit Ausnahme des Frackanzuges eingepackt.
Aber das Hemd, das Ljewin am Morgen angezogen hatte, war schon zerknittert, und Ljewin konnte es zu der modisch ausgeschnittenen Weste unmöglich tragen. Zu Schtscherbazkis zu schicken, war ihm zu weit erschienen. Er hatte nach einem Geschäft geschickt, um ein Hemd kaufen zu lassen. Der Kellner war unverrichteter Sache zurückgekommen: es sei alles geschlossen, wegen des Sonntags. Dann war in Stepan Arkadjewitschs Wohnung geschickt worden; ein Hemd war gebracht worden; aber es war viel zu weit und zu kurz. Schließlich hatte er doch zu Schtscherbazkis geschickt, um die Sachen wieder auspacken zu lassen. In der Kirche wartete man auf den Bräutigam; aber der lief, wie ein in einen Käfig eingesperrtes wildes Tier, im Zimmer hin und her, blickte alle Augenblicke auf den Flur hinaus und fragte sich in Erinnerung an die Torheiten, die er heute zu Kitty gesagt hatte, voll Entsetzen und Verzweiflung, was sie jetzt wohl von ihm denken möge.
Endlich stürzte Kusma, der dies alles verschuldet hatte, keuchend und atemlos mit dem Hemd ins Zimmer.
»Ich habe es gerade noch abgefaßt. Der Spediteur war schon dabei, die Sachen aufzuladen«, berichtete Kusma.
Drei Minuten darauf lief Ljewin, ohne nach der Uhr zu sehen, um seine Herzenswunde nicht noch mehr aufzureißen, den Vorsaal entlang.
»Damit kannst du nichts mehr gutmachen«, sagte lächelnd Stepan Arkadjewitsch, der ihm rasch, aber ohne übermäßige Hast folgte. »Es zieht sich alles zurecht, sage ich dir; es zieht sich alles zurecht.«
4
»Da sind sie! ... Das ist er! ... Welcher? ... Der jüngere doch wohl, nicht? ... Und sie ist mehr tot als lebendig, das liebe Kind!« So schwirrten in dem Zuschauerhaufen die Worte durcheinander, als Ljewin, der seine Braut am Kirchentor in Empfang genommen hatte, mit ihr in die Kirche schritt.
Stepan Arkadjewitsch teilte seiner Frau den Grund der Verspätung mit, und die Gäste flüsterten lächelnd untereinander. Ljewin achtete auf nichts und auf niemand; er sah nur seine Braut an, ohne ein Auge von ihr zu wenden.
Alle sagten, daß Kittys Aussehen sich in diesen letzten Tagen sehr verschlechtert habe und daß sie jetzt im Brautkranze lange nicht so hübsch sei wie gewöhnlich; aber Ljewin fand das nicht. Er blickte nach ihrer hohen Frisur mit dem langen, weißen Schleier und den weißen Blüten, nach dem hochstehenden, gefältelten Kragen, der so recht jungfräulich ihren schlanken Hals an den Seiten verhüllte und vorn offen ließ, nach der erstaunlich schmalen Hüfte, und Kitty erschien ihm reizender als je, nicht als ob diese Blüten, dieser Schleier, dieses aus Paris bezogene Kleid etwas zu ihrer Schönheit hinzugefügt hätten, sondern weil trotz dieser kunstvollen Pracht ihrer Gewandung der Ausdruck ihres lieben Gesichtes, ihrer Augen, ihrer Lippen unverändert der ihr eigene Ausdruck von Unschuld und Wahrhaftigkeit geblieben war.
»Ich dachte schon, du wolltest mir davongehen«, sagte sie und lächelte ihm zu.
»Was mir passiert ist, ist so dumm, daß ich mich schäme, es zu sagen«, antwortete er errötend. In diesem Augenblicke trat Sergei Iwanowitsch zu ihm heran, und er mußte sich zu diesem wenden.
»Die Geschichte mit deinem Hemd ist aber wundervoll!« sagte Sergei Iwanowitsch lächelnd und kopfschüttelnd.
»Ja, ja«, erwiderte Ljewin, der gar nicht verstanden hatte, was zu ihm gesagt war.
»Nun, Konstantin«, sagte Stepan Arkadjewitsch und machte heuchlerisch eine aufgeregte Miene. »Jetzt tritt die Entscheidung einer wichtigen Frage an dich heran. Gerade jetzt bist du in der Lage, die ganze Wichtigkeit dieser Frage zu würdigen. Ich werde gefragt, ob angebrannte Kerzen angezündet werden sollen oder noch nicht angebrannte. Der Unterschied beträgt zehn Rubel«, fügte er hinzu, indem er die Lippen zu einem Lächeln verzog. »Ich habe allerdings bereits eine Entscheidung getroffen, fürchte aber, daß du dich nicht damit einverstanden erklärst.«
Ljewin merkte, daß das ein Späßchen war, vermochte aber nicht darüber zu lächeln.
»Also wie denn nun? Angebrannte oder nicht angebrannte? Das ist die Frage.«
»Ja, ja! Nicht angebrannte.«
»Na, das freut mich sehr! Damit ist die Frage entschieden!« versetzte Stepan Arkadjewitsch lächelnd. »Aber wie dumm doch die Menschen in dieser Lage werden«, sagte er zu Tschirikow, nachdem Ljewin, der ihn zerstreut angesehen hatte, wieder näher an seine Braut herangetreten war.
»Gib wohl acht, Kitty, daß du auch ja zuerst auf den Teppich trittst«, sagte die Gräfin Northstone, die zu ihr trat. »Sie haben ja einen kostbaren Streich gemacht!« wandte sie sich an Ljewin.
»Nun, hast du keine Bange?« fragte Marja Dmitrijewna, eine alte Tante.
»Ist es dir auch nicht zu kühl? Du siehst so blaß aus. Warte mal, bücke dich ein wenig«, sagte Kittys Schwester, Frau Lwowa, und rückte ihr, die vollen, schönen Arme hebend, die Blumen auf dem Kopfe zurecht.
Dolly trat heran und wollte etwas sagen; aber sie war nicht imstande, etwas herauszubringen, sondern brach in Tränen aus und lachte dann gekünstelt.
Kitty blickte alle mit ebenso abwesenden Blicken an, wie Ljewin es tat.
Unterdessen hatten die Kirchendiener ihren Ornat angelegt, und der Geistliche und der Diakon begaben sich zu dem Chorpult, das im Kirchenschiff stand. Der Geistliche wandte sich an Ljewin und sagte ihm etwas. Aber Ljewin hatte es nicht verstanden.
»Fassen Sie Ihre Braut an der Hand und führen Sie sie«, sagte der Hochzeitsmarschall zu Ljewin.
Lange Zeit konnte Ljewin nicht begreifen, was von ihm verlangt wurde. Lange Zeit verbesserte man an ihm herum und wollte die Sache schon als hoffnungslos aufgeben (weil er immer nicht die richtige Hand hinreichte oder nicht die richtige Hand ergriff), als er endlich verstand, daß er, ohne seine Stellung zu ändern, mit seiner rechten Hand ihre rechte Hand fassen sollte. Nachdem er nun schließlich seine Braut so an der Hand gefaßt hatte, wie es sein mußte, ging der Geistliche einige Schritte vor ihnen her und blieb vor dem Chorpult stehen. Der Schwarm der Verwandten und Bekannten zog unter Stimmengesumm und mit raschelnden Schleppen ihnen nach. Jemand bückte sich und legte die Schleppe der Braut in Ordnung. In der Kirche wurde es so still, daß man das Fallen der Wachstropfen hörte.
Der alte Geistliche, in seiner hohen Kappe, mit den silberglänzenden, grauen Haarsträhnen, die hinter den Ohren nach beiden Seiten auseinandergeteilt