Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi страница 175
Wronski fühlte sich anfangs etwas unbehaglich, weil er den ersten Teil der »Zwei Prinzipien« nicht gelesen hatte, von dem der Verfasser mit ihm wie von etwas Bekanntem sprach. Aber als dann Golenischtschew seine Ideen auseinanderzusetzen begann und Wronski ihnen zu folgen vermochte, da hörte er, auch ohne die »Zwei Prinzipien« zu kennen, mit Teilnahme zu, zumal Golenischtschew wirklich gut sprach. Aber mit Erstaunen und Bedauern erfüllte ihn die gereizte, erregte Stimmung, in die Golenischtschew geriet, während er über den Gegenstand, der ihn beschäftigte, diese Mitteilungen machte. Je länger er sprach, um so mehr glühten seine Augen, um so eifriger entgegnete er seinen angenommenen Gegnern und um so unruhiger und erbitterter wurde sein Gesichtsausdruck. Wronski hatte noch recht wohl in der Erinnerung, was für ein schmächtiger, lebhafter, gutmütiger, vornehm denkender Knabe Golenischtschew gewesen war, wie er im Pagenkorps immer den ersten Platz in seiner Abteilung innegehabt hatte, und er konnte den Grund dieser Gereiztheit nicht verstehen und hielt sie für einen Fehler. Besonders mißfiel es ihm, daß Golenischtschew, ein Mann von gutem Stande, sich mit irgendwelchen Literaten, die ihn angriffen, auf eine Stufe stellte und sich über sie ärgerte. War denn die Sache das wert? Das mißfiel Wronski, aber trotzdem bedauerte er Golenischtschew auch, da er fühlte, daß dieser unglücklich sei. Ein inneres Leid, beinah etwas wie Geistesstörung, gab sich auf diesem beweglichen, ganz hübschen Gesicht zu erkennen, als er, ohne Annas Eintritt überhaupt zu bemerken, hastig und hitzig seine Ideen zu entwickeln fortfuhr.
Als Anna mit Hut und Umhang wieder ins Zimmer trat und, mit der schönen Hand in schnellen Bewegungen an ihrem Sonnenschirm herumspielend, neben Wronski stehengeblieben war, machte sich dieser mit einem Gefühl der Erleichterung von Golenischtschews unverwandt auf ihn gerichteten, mißmutig klagenden Blick los und schaute mit neuer Liebe auf seine reizende, lebensfrische, frohe Gefährtin. Golenischtschew gewann nur mit Mühe seine Fassung wieder und war zunächst sehr niedergeschlagen und finster; aber Anna, die es mit allen Menschen gut und freundlich meinte (so war sie eben damals), wußte ihn durch ihr einfaches, munteres Wesen bald aufzuheitern. Nachdem sie es mit verschiedenen Gesprächsstoffen versucht hatte, brachte sie ihn auf die Malerei, über die er sehr gut sprach, und hörte ihm aufmerksam zu. Sie gingen zu Fuß nach dem gemieteten Hause und besichtigten es.
»Eins macht mir ganz besondere Freude«, sagte Anna zu Golenischtschew, als sie bereits wieder auf dem Heimweg waren: »Alexei wird hier ein gutes Atelier haben. Nimm dir dazu unter allen Umständen das Zimmer, von dem wir sprachen«, sagte sie zu Wronski auf russisch und redete ihn dabei mit du an, da sie bereits voraussah, daß Golenischtschew bei ihrer Vereinsamung ihnen nähertreten werde und sich deshalb sagte, daß man sich vor ihm nicht zu verstellen brauchte.
»Malst du denn?« fragte Golenischtschew, sich schnell an Wronski wendend.
»Ja, ich habe mich vor langer Zeit damit beschäftigt und es jetzt wieder ein bißchen hervorgeholt«, versetzte Wronski errötend.
»Er hat großes Talent«, fügte Anna mit freudigem Lächeln hinzu. »Ich vermag es ja natürlich nicht zu beurteilen; aber sachverständige Beurteiler haben dasselbe gesagt.«
8
Anna fühlte sich in dieser ersten Zeit ihrer Freiheit und ihrer schnellen Genesung in unverzeihlicher Weise glücklich und voll Lebensfreude. Die Erinnerung an die unglückliche Lage ihres Mannes trübte ihr Glück nicht. Einerseits war diese Erinnerung gar zu schrecklich, als daß sie mit ihren Gedanken dabei hätte verweilen mögen; und anderseits war das Unglück ihres Mannes für sie die Quelle eines zu großen Glückes geworden, als daß sie es hätte bereuen können, ihn unglücklich gemacht zu haben. Die Erinnerung an alles, was mit ihr nach ihrer Krankheit geschehen war: die Versöhnung mit ihrem Mann, die Entzweiung, die Nachricht von Wronskis Verwundung, sein Wiedererscheinen, die Vorbereitungen zur Scheidung, der Abschied von ihrem Sohn, die Wegfahrt von dem Hause ihres Mannes – alles das erschien ihr wie ein Fiebertraum, aus dem sie erst erwachte, als sie sich allein mit Wronski im Ausland befand. Die Erinnerung an das Leid, das sie ihrem Manne zugefügt hatte, erregte bei ihr ein Gefühl von Widerwillen, ein Gefühl, wie es jemand empfinden mag, der in Gefahr war zu ertrinken und einen andern Menschen, der sich an ihn anklammerte, von sich gestoßen hat. Dieser Mensch ist ertrunken. Selbstverständlich, das war unmoralisch gehandelt; aber es war die einzige Rettung, und nun ist es das beste, man denkt an diese furchtbaren Einzelheiten nicht mehr.
Nur eine einzige beruhigende Überlegung über das, was sie getan, war ihr damals im ersten Augenblick nach dem Bruch in den Sinn gekommen, und sobald sie jetzt an alles Vergangene dachte, erinnerte sie sich auch wieder an diesen einen Gedanken. ›Ich habe es nicht vermeiden können, diesen Menschen unglücklich zu machen‹, dachte sie, ›aber ich will aus diesem Unglück keinen Nutzen ziehen; auch ich leide und werde immer leiden; ich habe verloren, was mir das Teuerste war, meinen ehrlichen Namen und meinen Sohn. Ich habe schlecht gehandelt, und darum will ich kein Glück für mich; ich will keine Scheidung; die Schande und die Trennung von meinem Sohn, das wird mein Leid sein.‹ Aber wie aufrichtig auch Annas Wunsch war, selbst zu leiden: sie litt nicht. Von Schande war nichts zu spüren. Mit jenem Taktgefühl, das ihnen beiden in so hohem Maße eigen war, vermieden sie im Auslande Begegnungen mit russischen Damen, so daß sie sich nicht in eine falsche Stellung brachten, und verkehrten immer nur mit Leuten, die sich stellten, als hätten sie für ihr beiderseitiges Verhältnis ein völliges Verständnis, sogar ein noch weit besseres als sie beide selbst. Selbst die Trennung von ihrem Sohn, den sie so sehr liebte, bereitete ihr in der ersten Zeit keinen allzu großen Schmerz. Das kleine Mädchen, sein Kind, war so lieb und hatte Annas Zuneigung, seit ihr nur dieses eine Kind geblieben war, in dem Grade gewonnen, daß sie nur selten an ihren Sohn dachte.
Annas Lebenslust, die noch durch das Gefühl der Genesung gesteigert wurde, war so groß und ihre augenblicklichen Lebensverhältnisse waren so neu und so angenehm, daß sie sich in unverzeihlicher Weise glücklich fühlte. Je mehr Sie Wronski kennenlernte, um so mehr liebte sie ihn. Sie liebte ihn um seiner selbst willen und wegen seiner Liebe zu ihr. Das Bewußtsein, daß er ganz ihr gehörte, war ihr eine beständige Freude, seine Nähe ihr stets angenehm. Alle die einzelnen Züge seines Charakters, den sie immer genauer kennenlernte, erfüllten sie mit unsagbarem Entzücken. Sein Äußeres, durch die Zivilkleidung verändert, hatte für sie einen solchen Reiz wie für ein verliebtes junges Mädchen. In allem, was er sagte, dachte und tat, sah sie etwas besonders Edles und Erhabenes. Oft erschrak sie selbst darüber, mit welcher Schwärmerei sie ihn verehrte; sie suchte an ihm nach Fehlern, konnte aber keinen finden. Sie mochte es ihn nicht merken lassen, wie gering sie sich ihm gegenüber vorkam; denn sie hatte die Empfindung, er könne, wenn er das wüßte, schneller aufhören, sie zu lieben, und nichts fürchtete sie, obwohl sie dazu keinerlei Anlaß hatte, jetzt so sehr als den Verlust seiner Liebe. Aber sie konnte nicht anders als ihm dankbar sein für sein Verhalten ihr gegenüber, und sie konnte nicht anders als ihm zeigen, wie sehr sie dieses Verhalten zu schätzen wisse. Er, der ihrer Meinung nach einen so entschiedenen Beruf zu staatsmännischer Tätigkeit hatte und auf diesem Gebiete sicherlich eine bedeutende Rolle gespielt hätte, er hatte ihr seinen Ehrgeiz zum Opfer gebracht, ohne jemals das geringste Bedauern darüber zu bekunden. Er war gegen sie noch liebevoller und ehrerbietiger als früher und mit unermüdlicher Sorge darauf bedacht, daß sie das Peinliche ihrer Lage nur ja nicht empfinden möge. Er, dieser mannhafte Charakter, hatte ihr gegenüber niemals ein Wort des Widerspruchs, ja überhaupt keinen eigenen Willen und schien auf nichts anderes zu sinnen, als wie er ihren Wünschen zuvorkommen könne. Und sie konnte nicht umhin, ihm dieses Verhalten hoch anzurechnen, obwohl gerade dieser hohe Grad seiner zarten Rücksichtnahme auf sie, diese stetige liebevolle Fürsorge, mit der er sie umgab, ihr mitunter drückend wurden.
Wronski seinerseits fühlte sich trotz der vollen Verwirklichung dessen, was er so lange gewünscht hatte, doch nicht vollkommen glücklich. Er hatte bald die Empfindung, daß durch die Verwirklichung seines Wunsches ihm doch nur ein Sandkorn von jenem Berge von Glückseligkeit