Die Sanduhr in meinem Kopf. Michael Bohm
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Sanduhr in meinem Kopf - Michael Bohm страница 3
DIE BERATERIN
Ich sehe Kaiser Barbarossa in seiner Pfalz zu Ingelheim mit einer Nonne am Kaminfeuer sitzen und die Köpfe zusammenstecken, um die Szene in heutiger Sprache zu beschreiben. Der Kaiser hat Zutrauen zu dieser Frau gefasst, die aus der Einfachheit des Herzens heraus den richtigen Ton und die richtigen Worte trifft, um den erwünschten Rat zu geben. Denkt der Kaiser an ihre Ansicht zu seinem Kriegszug, muss er schmunzeln. Die Grundfarbe der Geschichte sei rot, Herr, blutrot. Das dem mächtigsten Mann zu sagen, traue ich Hildegard ohne Weiteres zu.
Nicht nur der Kaiser, auch Könige, Päpste, Bischöfe suchen vor wichtigen Entscheidungen ihren Rat. Es sind nicht nur die hohen Herren, auch dem einfachen Volk wird sie zur Wegweiserin, obwohl sie sich – Koketterie? – gern als ungebildet bezeichnet. Diese »ungebildete« Klosterfrau geht jedoch auf theologische Reisen, predigt, spricht mit Offenheit den Niedergang der Kirche und des Klerus an. Vor gefährlichen Gegenangriffen schützt Hildegard sich stets mit der starken Deckung ihrer »göttlichen Visionen«. Nicht sie spricht, Gott spricht aus ihrem Mund.
Es waren nur selten persönliche Begegnungen, so wie mit dem Kaiser, meist waren es schriftliche Verbindungen zur Welt. Ihre Korrespondenz war sehr umfangreich. So darf die Sammlung ihrer Briefe ohne Frage zu ihrem schriftlichen Werk gezählt werden.
SPÄTE ROSEN
Ich sehe Hildegard zur frühen Abendstunde im Klostergarten. Sie sitzt auf einer Bank von Sträuchern später Rosen umgeben, beinahe eingerahmt. Leise summt sie vor sich hin. So sucht sie in der Stille nach neuen Melodien für den Gottesdienst. Sie nennt das nicht komponieren, sie nennt es den Geist reinigen. Sie setzt so ihre Glaubensgrundsätze in Musik um und gibt die leuchtenden Bilder ihrer Vorstellung an andere weiter.
Was auf diese Art entsteht, sind liturgische Gesänge, die zur Gregorianik gezählt werden.
Dann sehe ich Hildegard ein anderes Mal mit jungen Frauen fröhlich singend im Kräutergarten. Hier hält sich die Äbtissin nur zu gern auf. Der Garten lockt sie zu jeder Jahreszeit, ist er doch für sie eine Erinnerung an ihre frühen Jahre. Und natürlich erkennt Hildegard auch hier eine Möglichkeit, auf die Menschen einzuwirken. Wieder diktiert sie den Schreibern, sammelt zwei Bände mit ihrem Wissen über die Kraft der Natur. Naturkunde und Heilkunde nennt sie die Bücher. Allerdings gibt es leichte Zweifel, sie als die alleinige Verfasserin zu betrachten. Nicht gesichert, aber zu vermuten ist, dass Hildegard auch aus anderen Quellen schöpfte, die sie als richtig ansah. Von dem Buch Ursachen und Behandlungen, auch Hildegard zugeschrieben, hat sich nur eine einzige Handschrift in unsere Zeit retten können.
Einmal, so stelle ich es mir vor, hört die schon betagte Hildegard einem Gespräch über den Tod zu, schweigt und behält ihre Gedanken dazu bei sich. An einem der nächsten Abende, es ist der Tag vor ihrem Tod, spricht sie mit Gott und danach mit Gottes Sohn. Sie sagt, dass die Landschaft des Todes für sie keineswegs dunkel sei, wisse sie doch ihre Freunde dort und zudem gehe sie in das Licht des Himmels ein, das sie von Kindheit an begleitet habe.
Die Äbtissin vom Kloster Rupertsberg, Hildegard von Bingen, stirbt am 17. September 1179. Dieses Datum ist belegt.
HILDEGARDS SPUREN
Was ist von Hildegard von Bingen in unsere Zeit gekommen?
Hildegards Ruf als Heilkundige ist erst durch die moderne Werbung forciert worden und ist nicht zu ernst zu nehmen. Sie hat, das kann behauptet werden, das Heilwissen ihrer Zeit gesammelt und geordnet und sich dabei nicht hinter dem Latein versteckt, sondern die deutsche Sprache verwendet. Hildegard hat auch geschrieben: »Drei Pfade hat der Mensch in sich, die Seele, den Leib und die Sinne. Beachtet der Mensch dies, bleibt er gesund.«
Vom Volk wurde Hildegard schon zu Lebzeiten als eine Heilige verehrt. War sie das auch in ihren eigenen Augen? Dafür habe ich keine Belege gefunden. Ganz gewiss war sie eine seltene, eine überragende Persönlichkeit, die keinen Zweifel hatte an dem, was sie glaubte, sagte und tat. In ihrer Zeit, vor 900 Jahren, gab sie den Frauen eine Stimme, die Gehör fand und die ernst genommen wurde. Sie konnte wohl gewiss sein, ihren Weg nicht alleine für sich, sondern auch für ihre Schwestern und für alle Menschen zu gehen.
Das attische Licht
Agnodike, Ärztin in Athen
Ihren Namen lese ich zum ersten Mal in einer geschichtlichen Abhandlung eines ärztlichen Magazins. Dort wird sie beiläufig in einem Nebensatz als die erste Ärztin der griechischen Antike vorgestellt. Das fast schon fahrlässige an den Rand schieben dieser zur damaligen Zeit – wir sprechen von den Jahren um 290 vor Christus – so besonderen Ausnahme, ein Hinweghuschen über ein staunenswertes Kuriosum, reizt sofort meine Neugierde.
Wieder zurück an meinem Schreibtisch beginne ich zu recherchieren. Zunächst überrascht, im Verlauf meiner Nachforschung zunehmend erstaunt, muss ich feststellen: Es gibt über Agnodike nur wenig mehr als diesen Nebensatz zu finden. Dementsprechend dünn sind meine Notizen, die ich erst einmal zur Seite lege, bis ich möglicherweise etwas entdecke, das ich ihnen hinzufügen kann.
Mein Kopf allerdings beschäftigt sich selbständig in einem Hinterstübchen weiter mit dieser fast vergessenen Agnodike. In diesem ruhigen Domizil wird aus der unbekannten Frau, die als Ärztin, in jener Zeit eine für Frauen streng verbotene Tätigkeit, einen nicht unproblematischen, unter Umständen sogar einen für sie gefährlichen Beruf ausübte, allmählich eine lebendige Person.
Agnodike ist in meiner Vorstellung eine Frau in den mittleren Jahren. Sie strahlt eine eigentümlich ruhige Nervosität aus, hat das starke Charisma einer erfolgreichen und anerkannten Persönlichkeit.
Ich sehe sie durch das rege Treiben in den Straßen von Athen einem Ziel entgegeneilen. Immer wieder schenkt sie ein freies Lächeln den Menschen, die ihr begegnen und sie grüßen. Über der Schulter trägt sie eine geflochtene Tasche. Sie ist unterwegs zu einer Patientin, die in den nächsten Tagen ihr erstes Kind erwartet. Ein Sklave, der einige Schritte vor ihr herläuft, sich immer wieder nach ihr umschaut, hat ihr den dringenden Ruf überbracht.
Agnodike ist eine Geburtshelferin und wird von ihren Patientinnen wie eine gute Freundin geliebt. Die Gemeinschaft dieser Freundinnen, alle Gattinnen einflussreicher Männer, hat ihr in der dunkelsten Stunde die Freiheit für ihren Beruf erfochten.
Als Tochter eines Arztes war Agnodike lange Jahre die Helferin ihres Vaters. Immer in seiner Nähe konnte ihr nicht entgehen, dass die Frauen vor ihrem Vater, einem Mann, zumeist eine schamhafte Scheu zeigten, die in ihrem Zustand zu Verkrampfungen und damit häufig zu Komplikationen führte. War sie mit den Frauen alleine, war alles leichter.
Bedingt durch diese Beobachtung versuchte sie mit steter Bitte, ihren Vater dazu zu bringen, ihr Lehrer zu werden. Doch der Vater schien bei diesem Wunsch mit Taubheit geschlagen. Er wusste nur zu gut, dass eine Frau nicht einmal daran denken durfte, Ärztin sein zu wollen, auch nicht eine Geburtshelferin. Das war allein Aufgabe der Männer. Das war einfach so. Die Tochter verstand, was der Vater ihr mit seinem Schweigen sagen wollte, bohrte aber weiter, versuchte das Unmögliche, nämlich einen Stein zu erweichen.
Eines Tages kam ein fremder Arzt auf Besuch in das Haus des Vaters. Sein Name war Herophilos und er kam aus Alexandria. Zunächst nahm der Gast die junge Frau kaum wahr, auch weil eine Frau in dieser Gesellschaft nur ein Schattendasein führen durfte.