Der Stoff, aus dem die Helden sind. Jürgen Kalwa
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Die Geräusche.
Das Rot der schweren Schlitten neben dem kleinen Starterhäuschen.
Die innere Anspannung.
Aber vielleicht sollte ich zuerst von den Schlitten erzählen, diesen knapp zwei Meter langen Metallgehäusen, die wie große, aufgebogene Cola-Dosen aussahen. Man setzte sich nicht einfach auf sie. Man schlängelte sich hinein und legte sich auf den Rücken. Dann stemmte man die Füße gegen ein schräg gestelltes Brett und verstaute den von einem Helm geschützten Kopf unter einem dünnen Überrollbügel aus Stahl.
Diese Schlitten gehörten auf der Bob- und Rodelbahn von Park City in den Jahren vor den Olympischen Spielen von 2002 zum Inventar. Man hatte ihnen den Namen Ice Rockets gegeben. Das klang werbewirksam und gefährlich, aber es führte in die Irre. Diese Eisraketen konnten nicht fliegen. Die Parallele existierte in einer anderen Dimension: Einmal angeschoben schossen sie steuerlos die spiegelglatte Rinne hinunter.
Die eigentliche Arbeit leistete die Schwerkraft. Sie beschleunigte das Vehikel auf 80 Stundenkilometer. Der Rest fand im Kopf des Reisenden statt und prägte sich dort für immer ein. Das begann, ehe es überhaupt losging, mit einer suggestiven Panik, ausgelöst von der Vorstellung, dass der Schlitten in einer Kurve hart gegen die Wand rempelt und man anschließend bäuchlings den Rest der 1.300 Meter langen Strecke hinabrast.
Am Ende stellte sich das Ganze als bloßes Spiel mit den Nerven heraus. Besonders in den Steilkurven, wo man sich – angeschnallt und eingeklemmt – wie ein hilfloses Bündel vorkam, wenn der Körper mit dem Fünffachen seines Gewichts Richtung Wand gepresst wurde. Ein Gefühl, als ob einem jemand Bleiplatten auf den Bauch legt.
Nach einer Minute war die Fahrt vorbei. Die Angst verwandelte sich in Euphorie. Ein Effekt, der sich in der Andeutung des Chefs des Utah Winter Sports Park verborgen hatte, als er bei der Begrüßung prophezeite: „Das nächste Mal, wenn Sie von der Bahn hören oder sie sehen, dann wissen Sie, was es bedeutet.“
Das nächste Mal ergab sich tatsächlich, Jahre später, als an derselben Stelle die olympischen Entscheidungen im Rodeln, Bob und Skeleton ausgetragen wurden. Ich sah die Bahn zwar nur von weitem – auf dem Fernsehbildschirm. Aber ich erinnerte mich an diesen Satz und beschäftigte mich damals zum ersten Mal mit der Frage, was es denn „bedeutet“, wenn man das Besondere an einer relativ gefährlichen Sportart schon einmal erlebt hat, aber diese Erfahrung in der Berichterstattung nicht widergespiegelt findet. Was fehlt einem als Zuschauer, wenn einem die Fernsehreporter in Park City die Bahn als bloße Kulisse in einer von Sonne und Schnee verwöhnten Winterlandschaft zeigen? Eine Kulisse, in der Sportler wie routinierte Darsteller in einem Medaillentheater wirken, eingehüllt in windschlüpfrige Kleidung und verborgen unter Helmen mit Vollvisier.
Es gehört nicht sehr viel dazu, und man begreift in einem solchen Moment, dass eine derartige Inszenierung den Stoff, aus dem die Helden der Eisrinne sind, überhaupt nicht zu erfassen vermag. Das Resultat: Ein regulärer Zuschauer, der in seinem Leben vermutlich niemals die Möglichkeit erhalten wird, sich eine Rodelbahn hinabzustürzen, wird nie herausfinden, worin die besondere sportliche Leistung eigentlich besteht.
Das Beispiel aus Park City ist übrigens nur eines unter vielen, bei denen die Medien von heute einen erheblichen Teil ihrer beachtlichen Kraft dazu benutzen, die Darstellung der Realität hauptsächlich in eine Richtung zu lenken: Dorthin, wo sich die vorgefundene Welt auf ein paar simple Aspekte reduzieren lässt. Und sei es auf so absurde Zeiteinheiten wie Tausendstelsekunden. Denn selbst das produziert Dramen und Kontroversen. Bei den Winterspielen von Nagano 1998 etwa betrug der Zeitunterschied nach vier Fahrten zwischen Gold- und Silbermedaille und den beiden deutschen Fahrerinnen Silke Kraushaar und Barbara Niedernhuber nur zwei Tausendstelsekunden. Umgerechnet auf die gefahrene Gesamtdistanz von mehr als vier Kilometern: die Länge eines kleinen Fingers. Zum Vergleich: Der Wimpernschlag des menschlichen Auges dauert 300 bis 400 Tausendstelsekunden.
Wie hanebüchen das alles ist, belegte eine technische Untersuchung zur systemimmanenten Fehlerquote der eingesetzten Lichtschrankentechnologie. Ihr Ergebnis: Sie beträgt bei jedem Lauf zwei Tausendstelsekunden. Es könnte also sein, dass die Platzierung und die Vergabe der Medaillen von Nagano gar nicht korrekt waren. Und dass die Erfolgsprämien der Deutschen Sporthilfe (15.000 Euro für die Goldmedaille, 10.000 für Silber) falsch verteilt wurden.
Aber mal abgesehen von einer Welt, in der eine solche surreale Resultatsdifferenzierung ganz reale Konsequenzen hat: Es wäre im Prinzip gar nicht so schwierig, sich stattdessen im Rahmen des journalistischen Alltags aus einer plausibleren Nähe mit den Persönlichkeiten und Phänomenen im Sport zu beschäftigen und für ein umfassenderes, vielfältigeres und vielschichtigeres Bild zu sorgen. Stoff gibt es mehr als genug.
Dazu müssten Journalisten allerdings an den Ort des Geschehens ein wenig mehr mitbringen als bloße Neugier und Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, das Erlebte hinterher nachzuerzählen. Sie müssten sich mit ihrem eigenen Gedächtnis auseinandersetzen. Das Gedächtnis, so hat der Hirnforscher Gerhard Roth mal geschrieben, ist „unser wichtigstes Sinnesorgan“: die Schaltstelle für die fünf anderen Sinne („die Tore des Gehirns zur Welt“1), wo das Erlebte „unter Zuhilfenahme angeborener und erworbener Gestaltungsmuster zusammengefügt“ wird, damit die sinnlich erfahrbare Welt auch tatsächlich Sinn ergibt. „Die aktuellen Sinnesreize sind nur der Anlass für unser Gehirn, bewährte Konstrukte aus dem Gedächtnis abzurufen“ und mit den neuen Informationen abzugleichen.2
Sportjournalisten scheinen theoretisch für das Abgleichen und Zusammenfügen bestens prädestiniert. „Von all den schrägen Vögeln im Zeitungszoo“, schrieb der Schriftsteller Paul Gallico in den dreißiger-Jahren in seinem Buch Farewell to Sport, „ist der Sportjournalist der eigenartigste. Er ist Reporter, Kritiker, Kommentator, Detektiv, PR-Agent, Zyniker und Heldenverehrer, und zwar alles in einem.“3
Für ihn selbst stimmte diese Beschreibung. Gallico betrieb das Metier so intensiv wie kaum ein anderer: beim Schwimmen zusammen mit dem Olympiasieger und späteren Hollywood-Tarzan Johnny Weismuller, beim Golf mit dem Ausnahmespieler Bobby Jones und beim Sparring im Ring mit dem Boxer Jack Dempsey. Das passierte vor einem Kampf, über dessen Vorbereitungen damals alle Zeitungen berichteten. Als Kameras zum ersten Mal ausführlich die Atmosphäre von Trainingslagern einfingen und Material drehten, das später im Stil von Wochenschauen nachvertont wurde. Mit übertrieben klingenden Kommentaren wie diesem: „Firpo knows that Dempsey can throw a punch so fast, you can’t even see it coming.“4
Für diese Einschätzung gab es eine Quelle: Paul Gallico, der wie keiner der angereisten Journalisten so weit gegangen und mit Dempsey in den Ring gestiegen war. Sein Schlagabtausch im August 1923 in Saratoga Springs mit dem damaligen Schwergewichtsweltmeister vor dem Titelkampf gegen den Argentinier Luis Ángel Firpo wurde zu einem eindrucksvollen Selbstversuch. Gallico ging zwar bereits nach einer Minute und 37 Sekunden K.o., aber gab schon eine halbe Stunde später seiner Redaktion, der Daily News in New York, am Telefon einen Erfahrungsbericht durch.5
Der großgewachsene Journalist hatte im Laufe der Jahre viele verschiedene Sportarten ausprobiert, aber vorher noch nie geboxt. Dennoch fühlte er sich in guter körperlicher Verfassung, nachdem er erst kurz zuvor sein Studium an der Columbia University in New York abgeschlossen und dort vier Jahre lang im Achter der Rudermannschaft gesessen hatte. Das sollte sich in der Vorbereitung auf eine Runde mit einem Box-Champion von Format als unzureichend herausstellen. Die Lektion war hart und unmissverständlich, aber ihr Erkenntniswert ließ sich selbst einem unerfahrenen Publikum nahe bringen: „Ich habe herausgefunden“, schrieb Gallico, „dass ein Boxer – so wie ein Soldat im Krieg, der nie die Kugel hört, die ihn umbringt – nicht den Schwinger sieht, der ihn mit einem Mantel aus Dunkelheit bedeckt und für ein Gefühl sorgt, das so wirkt, als