Der Stoff, aus dem die Helden sind. Jürgen Kalwa

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Der Stoff, aus dem die Helden sind - Jürgen Kalwa

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Dirk Nowitzki – So weit, so gut: Von Würzburg zum Weltstar – eine etwas andere Biographie, Hildesheim, 2019

WERKSTOFF – DER STOFF, AUS DEM DIE LEGENDEN SIND

      THE SPIRIT

      Das Koordinatensystem einer Sportwelt, die Helden produziert, weil sie Helden braucht

      Es gibt Menschen, die jede Zurückhaltung ablegen, wenn sie ihn entdecken. Sie betasten seine Arme und Beine. Reden auf ihn ein. Und versuchen auf eine hypnotische Art, mit ihm zu kommunizieren.

      Den Annäherungsversuchen ist er wehrlos ausgeliefert. Denn der Sockel, auf den ihn der Bildhauer gestellt hat, damit er mit ausgestrecktem Arm und einem Ball in der Hand für immer und ewig zu einem imaginären Korb fliegt, ist nur etwas mehr als 1,50 Meter hoch. Michael Jordan in Bronze – ein Denkmal des amerikanischen Sports mit dem Titel The Spirit – hat auf diese Weise sehr menschliche Dimensionen behalten.

      Er ist zum Greifen nah.

      Der Platz, an dem er aufgestellt wurde, ist gut gewählt. Es ist der Bereich vor Tor 4 des United Center in Chicago, einer der Kathedralen der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Jordan, der in dieser Sporthalle mit den Chicago Bulls manchen Meisterschaftserfolg errungen und einen Klub zurückgelassen hat, der seitdem nie wieder auch nur in die Nähe der alten Erfolge kam, wird auch in Zukunft ihre bedeutendste Ikone bleiben. Die Stimmung des Jahres 1995, als er nach einem Baseball-Intermezzo in Alabama32 nach Chicago zurückkehrte, hat diesen Status gleichsam zementiert. Die Szenen von damals blieben unvergessen. „Es war verrückt“, sagte Bulls-Center Will Perdue. „Es gab Leute, die vor seiner Statue gebetet haben. Sie haben gebetet, dass er zurückkommt.“

      Der beste Basketballer der Welt hat in jenen Tagen nicht nur seine Fans in eine ungewöhnliche Begeisterung versetzt. An der New Yorker Börse stiegen die Aktien der Firma Nike, des Herstellers der Air-Jordan-Schuhe.

      Gerade weil seine Popularität so enorm war, ist sein Stellenwert nur schwer zu messen. Keine Statistik vermag zu erfassen, was der Mann aus North Carolina auslöste, als er zum Aushängeschild einer Stadt wurde, deren bekanntester Einwohner einst ein Gangster namens Al Capone war. Aber sein Einfluss auf die Umwälzungen in der Beziehung zwischen kommerziellem Sport und der modernen westlichen Gesellschaft lässt sich durchaus beschreiben. Michael Jordan, ein leichtfüßiger Spieler mit fast balletthaften Bewegungen und einem unbändigen Willen zum Sieg, war Symbol und Wegbereiter für eine Entwicklung, in deren Rahmen Athleten immer stärker Einfluss auf das Denken und Handeln von Millionen von Menschen nehmen. Von Menschen, die Sport wie eine Droge inhalieren.

      Der Entwicklung haftet etwas Zwangsläufiges an – nicht nur in den USA. Dort zeigen sich manche Phänomene allenfalls deutlicher und ausgeprägter als in anderen Ländern – etwa beim Nachruhm eines Baseballspielers wie Babe Ruth, dessen Leben mehrfach verfilmt wurde. Oder wie im Fall von Joe DiMaggio, dessen Name in dem Pop-Song Mrs. Robinson von Simon & Garfunkel verewigt wurde (Zitat: „Where have you gone, Joe DiMaggio?“). Ihr Symbolcharakter wirkt stärker – bis an den Rand zur Groteske, wie im Fall des Boxers Muhammad Ali, dem einstigen Großmaul, der später krankheitsbedingt nur noch schweigend die Sympathien der Welt genießen konnte. Sie wirken gelegentlich wie morality plays33, etwa dann, wenn jemand wie Mike Tyson, im Ring ein gnadenloser Faustkämpfer, als verurteilter Gewalttäter im Gefängnis landet. Wenn ein Ausnahmegolfer mit einem Vermögen von mehreren hundert Millionen Dollar wie Tiger Woods aufgrund eines Sexskandals beinahe aus der Bahn geworfen wird. Oder wenn Steuerbehörden mit der Macht des Gesetzbuchs etwa in Deutschland Tennisprofis wie Boris Becker und Steffi Graf oder Fußballmanager wie Uli Hoeneß in heikle Situationen bringen.

      Sie alle und ihre verschlungenen Biographien gehören zu der Stoffsammlung, die eine neue Art von Identifikationsfiguren geschaffen hat. Spitzensportler von Weltrang, die einerseits zwar durch ihr Können das Unterhaltungsbedürfnis der Massen über kulturelle und Sprachgrenzen hinweg bedienen, die zu unkritisch verehrten Ikonen stilisiert werden, aber nur selten den Anspruch der Gesellschaft erfüllen, die sie gerne allzu naiv zu Vorbildern machen würde.

      Mit diesem Spannungsverhältnis hat Michael Jordan schon früh umzugehen versucht. Deshalb präsentierte er sich zwischendurch als angelernter Sportphilosoph und ließ seine Gedankenkrümel über die neurotische Wechselbeziehung zwischen Ehrgeiz, Sport und Öffentlichkeit zwischen die Buchdeckel der Motivationsfibel I Can‘t Accept Not Trying pressen. Das Werk offenbarte, dass Jordans Antriebskräfte offensichtlich einem manischen inneren Monolog entspringen: aus der ständigen Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Scheiterns. „Es ist hart“, beschrieb er das Gefühl, „wenn man jedes Mal auf dem Spielfeld alles bringt, was man hat, und trotzdem verliert.“

      Der real existierende Jordan ist das Produkt einer faszinierenden Sportkultur. Einer vielschrötigen Maschinerie ohne Vereinsmeierei und staatliche Lenkung, die mit den Widersprüchen der amerikanischen Gesellschaft lebt und durch sie gedeiht. So ist sie auf der einen Seite bis zum letzten T-Shirt mit aufgedrucktem Club-Emblem konsequent durchkommerzialisiert und verlangt den Profis im Laufe ihrer Karriere alles ab, was sie haben: ihre Gesundheit und eine Söldnermentalität vom Zuschnitt der Angehörigen der französischen Fremdenlegion.

      Aber Amerikas Stars kommen nicht aus dem Nichts. Die meisten besuchen Universitäten, die aus Tradition das Fundament und das Rückgrat des organisierten Leistungssports in den USA bilden. Das erklärt, weshalb die große amerikanische Sport-Show von heute in einem philosophischen Rahmen existiert, der in Elite-Universitäten wie Harvard und Yale gegen Ende des 19. Jahrhunderts formuliert wurde: Damals galt Sport als Inbegriff der Charakterschulung für junge Männer, die es zu etwas bringen wollen.

      Der Anspruch mag übertrieben klingen. Denn die Idee hat, seitdem die Universitäten selbst das Sportgeschehen kommerziell ausschlachten, ihre naive Unschuld verloren. Dennoch produziert der College-Sport auch heute noch mit Hilfe des Fernsehens ein spezifisch amerikanisches Irresein. Bierselig feuern Ex-Studenten in Sportbars und auf Partys den sportlichen Nachwuchs ihrer Alma Mater an. Ganze Bundesstaaten wie Indiana und Kentucky im Basketball oder Alabama und Texas im Football identifizieren sich mit College-Athleten.

      Die unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt von ihren Kollegen in den Profiligen: Amerikas Studenten waren bis vor kurzem echte Amateure.34 Egal ob sie gewannen oder verloren – solange sie die Farben der Hochschule trugen, bekamen sie nichts außer einem Stipendium. Sie wurden streng abgeschirmt von Schuh-Deals, Prämien, Sachgeschenken, Vorverträgen und sogar von Essenseinladungen. Selbst jemand wie Tiger Woods hatte als Student keinen Spielraum. Als er mit seinem namhaften Golferkollegen Arnold Palmer eines Tages ein Restaurant besuchte, bezahlte der zwar die Rechnung. Woods jedoch musste ihm hinterher einen Scheck schicken. Hätte er Palmer nicht seinen Anteil erstattet, hätte er sein Stipendium einbüßen können und wäre gezwungen gewesen, die teuren Studiengebühren der Stanford University selbst zu bezahlen. Und dieses Geld hatte der Mann damals nicht, der später als allererster Sportler die Milliardengrenze an Bruttoeinnahmen überschreiten sollte.

      Das vermeintliche Idyll produziert nicht nur Absurditäten. Es fabriziert Risse. Denn der Universitätssport kommt nicht mehr mit seiner selbstgewählten Rolle als Ausbildungslager für den Profibereich zurecht. Die Verzahnung mit den Medien hat an den Hochschulen zu einem Starsystem eigener Prägung geführt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Mythos vom erfolgreichen Amateurathleten und dem unbefleckten Helden- und Leistungskult endgültig seinen Glanz verliert.

      Nicht alle Nachwuchstalente drängen in den Profibereich. Es gibt jene, die das, was sie an der Universität und auf dem Spielfeld erreicht haben, in andere Karrieren ummünzen. Einige fühlen sich sogar berufen, in die Politik zu gehen. Wie der Princeton-Absolvent und Basketball-Olympiasieger Bill Bradley,

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