Untote leben länger. Philip Mirowski

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Untote leben länger - Philip  Mirowski

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[…] Ich wäre gern ein Libertärer, der jede Regierung ablehnt.

      REASON: Warum sind Sie es dann nicht?

      FRIEDMAN: Weil ich das nicht für eine praktikable Gesellschaftsstruktur halte.22

      Kein Wunder, dass Nichteingeweihte so verwirrt sind, wenn man von vielen Neoliberalen selbst als bekennender Sympathisant nur mit großer Mühe eine klare Antwort bekommt. Und je mehr man ihre Schriften studiert, umso schlimmer wird es häufig noch. Es wäre zum Beispiel eine langwierige und undankbare Aufgabe, in Friedmans Werk tatsächlich libertäre politische Vorschläge zu finden – was wirkliche Libertäre mitunter auch beklagen. Sie müssen über Aussagen wie die folgende hinweglesen: »Man kann ein hohes Maß an gesellschaftlicher wie auch wirtschaftlicher Freiheit ohne jegliche politische Freiheit haben.«23 Die lautstarke Dämonisierung eines Popanzes namens »die Regierung« ist mitnichten dasselbe wie die Ablehnung »des Staates« schlechthin.24 Der reife Neoliberalismus findet am minimalistischen Nachtwächterstaat der klassisch liberalen Tradition kein Gefallen: Sein Hauptmerkmal sind vielmehr Vorschläge und Programme für die Beeinflussung, Übernahme und Transformation eines starken Staates, der die vollkommene, dem eigentümlichen neoliberalen Idealbild der reinen Freiheit verpflichtete Gesellschaft durchsetzen soll. Der Neoliberalismus wurde ein »konstruktivistisches« Projekt, so vehement Hayek diesen Begriff auch ablehnte.25 Dass er beinahe das genaue Gegenteil des libertären Anarchismus darstellt, wurde lange Zeit übersehen, wird heute jedoch in Kreisen, die sich mit politischer Ökonomie befassen, zunehmend anerkannt.26 Insofern ist »Neoliberalismus« nicht nur der historisch korrekte Name für eine bestimmte Strömung in der politischen Theorie, sondern auch der Sache nach treffend: Die frühen Neoliberalen distanzierten sich zumeist ausdrücklich vom klassisch liberalen Gedanken des Laissez-faire, der ihnen überholt schien.27 Sie suchten nach einer neuen, weniger kontemplativen Orientierung. Spätere MPS-Mitglieder wie James M. Buchanan gaben zumindest in den geschlossenen Veranstaltungen der Organisation noch freimütiger zu, dass der Staat Anziehungskraft auf die Neoliberalen ausübte:

      »Manche unserer Mitglieder können sich eine lebensfähige Gesellschaft ohne Staat vorstellen. […] Für die meisten von uns jedoch ist eine gesellschaftliche Ordnung ohne Staat nicht ohne Weiteres denkbar, zumindest in keinerlei normativ erstrebenswertem Sinne. […] Wir kommen nicht darum herum, auf unser Verhältnis zum Staat durch ein anderes Fenster zu blicken, um eine bekannte Metapher Nietzsches zu bemühen. […] Der Mensch ist ein Sklave des Staates und er muss dies auch bleiben. Doch es ist von allergrößter Bedeutung, zu begreifen, dass zehn Prozent Sklaverei etwas anderes sind als fünfzig Prozent Sklaverei.«28

      Wer den Neoliberalismus genauer begreifen will, stößt auf mindestens zwei große Hindernisse: den Nebel, in den die Neoliberalen den Begriff und verwandte Gedankengebäude zugunsten eines Zusammengehens mit anderen konservativen Strömungen tauchen, und die Tatsache, dass sich seine Grundsätze in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gewandelt haben. Die rund zehn Gebote des Neoliberalismus wurden nicht vollständig und makellos 1947 am Mont Pèlerin empfangen, wo sich die MPS erstmals versammelte, und sie sind auch nicht aus einigen »Hayek’schen Enzykliken«, wie Jamie Peck so treffend formulierte, herzuleiten. Selbst wenn wir uns auf die MPS beschränken würden – was zu eng gefasst wäre –, müssten wir mindestens drei Sekten oder Unterfraktionen berücksichtigen, die sich in ihr rasch herausbildeten: eine an der österreichisch geprägten Rechtstheorie Hayeks orientierte, die Chicago School der neoklassischen Wirtschaftstheorie und den deutschen Ordoliberalismus.29 Hayek räumte dies Mitte der Achtzigerjahre selbst ein, als er vor der »dauernde[n] Gefahr, daß die ›Mont Pèlerin Society‹ in einen Friedman’schen und einen Hayek’schen Flügel gespalten werden könnte«, warnte.30 Dem neutralen Beobachter bot sich ein Bild anhaltender Spannungen, aber auch gegenseitiger Befruchtung. Man braucht schon ein dickes Nachschlagewerk, um den Überblick zu behalten; auch dies dürfte den bloß neugierigen Außenstehenden abschrecken.

      Was den Neoliberalismus angesichts dieser die Gefahr einer Spaltung bergenden Zentrifugalkräfte zusammengehalten hat, ist eine begründete Frage. David Harvey vertritt die marxistische Position, er sei schlicht ein Klassenprojekt, das sich hinter diversen Spielarten einer Rhetorik des »freien Marktes« verberge. Die Ideen an sich sind ihm zufolge deutlich weniger wichtig als die simple Funktion, dem Interesse des Finanzkapitals und globaler Eliten an einer Umverteilung des Reichtums von unten nach oben zu dienen. Ähnlich wie Harvey vertreten auch Michael Howard und John King eine historisch-materialistische Lesart, die die »Bedeutung der Widersprüche in den maßgeblichen Institutionen der Nachkriegsära sowie die daraus resultierenden Krisen der Siebzigerjahre betont«.31 Daniel Stedman Jones unterteilt den Neoliberalismus anhand der jeweils vorherrschenden Politik in drei Phasen: die Vorgeschichte bis zum ersten Treffen in Mont Pèlerin, eine zweite, von der monetaristischen Kritik am Neokeynesianismus bestimmte Phase bis zum Machtantritt Reagans und Thatchers und eine dritte Phase seit den Achtzigerjahren.32 Jamie Peck misst den Ideen als solchen mehr Gewicht bei: Die Fragmentierung des Neoliberalismus sei zwar real, werde aber durch die gemeinsame Verpflichtung auf ein unrealistisch-utopisches Freiheitsverständnis kompensiert. Allerdings ließ die erfolgreiche Infiltration des Staates laut Peck eine Bandbreite divergierender Theoriebausteine deutlich werden: »Erst mit der Übernahme der Staatsmacht konnte immanente Kritik zu einer scharfen Selbstkritik werden.«33 Peter-Wim Zuidhof deutet die Fragmentierung als Teil eines bewussten rhetorischen Programms, das dem Begriff »Markt« jede klare Bedeutung nehmen soll.34 Ohne die Stärken dieser Erklärungen zu bestreiten, lassen sich allerdings auch einige schlichte Beobachtungen über die Struktur der MPS und ihrer Satellitenorganisationen anstellen.

      Die MPS entwickelte sich meiner Ansicht nach in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem ungemein erfolgreichen Gebilde, das die Ausarbeitung einer handlungsorientierten politischen Theorie jenseits der herkömmlichen Strukturen von Parteien und akademischen Institutionen ermöglichte. Vielleicht wird man sie eines Tages als ein neues Phänomen in der Wissenssoziologie des 20. Jahrhunderts studieren. Zumindest bot sie einen neuartigen Rahmen, der die theoretischen Auflösungstendenzen bremste und die drei Fraktionen in produktiver Spannung zueinander hielt. Hayek vertrat 1946 eine Vision der MPS als »Mittelweg zwischen wissenschaftlicher Vereinigung und politischer Gesellschaft«35, doch sie wurde weit mehr als das. Wir verfolgen den Neoliberalismus hier vor allem deshalb anhand der MPS, weil sie Teil einer eigentümlichen, in den Vierzigerjahren vielleicht beispiellosen Struktur des intellektuellen Diskurses ist, in der Forschung und Praxis nach dem Vorbild einer russischen Schachtelpuppe ineinanderstecken. Ziel war es, eine funktionale hierarchische Elite straff organisierter politischer Intellektueller hervorzubringen; wie Hayek an Bertrand de Jouvenel schrieb: »Manchmal frage ich mich, ob es anstatt des Kapitalismus nicht vielmehr der (als Demokratie bezeichnete) starke egalitäre Zug in Amerika ist, der die Entwicklung einer kulturellen Elite derart behindert.«36 In der MPS erkannten die Neoliberalen ein effektives, von lokalen Bedingungen unabhängiges Mittel zur Neuerrichtung einer Hierarchie. Dieser auf mehreren Ebenen, Phasen und Sektoren aufbauende Versuch, die politische Fähigkeit zur Entwicklung, Kritik und Verbreitung von Ideen zu erlangen, wird im Folgenden als »Denkkollektiv« bezeichnet.

      Das Neoliberale Denkkollektiv unterschied sich in seiner Struktur deutlich von den anderen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um geistigen Einfluss ringenden »unsichtbaren Akademien«. Anders als die meisten Intellektuellen der Fünfzigerjahre erkannte die MPS den entscheidenden Hebel für ihre Bestrebungen nicht in den Universitäten, den akademischen Berufen oder der Mobilisierung von Interessengruppen – alle drei waren aus ihrer Sicht zu staatshörig. Die ersten Neoliberalen fühlten sich mit einer gewissen Berechtigung von den geistigen Schaltstellen im Westen weitgehend abgeschnitten. So entstand die MPS als ein geschlossener, privater Debattierclub, dessen Mitglieder sorgfältig ausgewählt wurden (zunächst vor allem von Hayek, später durch ein nichtöffentliches Ernennungsverfahren) und der sich bewusst abseits der Öffentlichkeit hielt. Es ging um die Schaffung eines besonderen Raums, in dem politisch ähnlich Gesinnte über die Konturen einer zukünftigen, vom klassischen Liberalismus abweichenden Bewegung debattieren konnten, ohne für ihre oftmals utopischen Vorschläge Spott zu ernten oder in den Ruf einer fünften Kolonne machtvoller dubioser Interessengruppen der Nachkriegsgesellschaft

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