Untote leben länger. Philip Mirowski
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Kluge Historiker haben eingewandt, ein derart vielgestaltiges Wesen könnte sich einer seriösen Analyse entziehen. Festzuhalten ist jedoch, dass die neoliberalen Bodentruppen offenbar durchaus in der Lage sind, Gleichgesinnte zu erkennen, den intellektuellen Austausch mit Verbündeten zu fördern und – wichtiger noch – selbst inmitten der Weltwirtschaftskrise politische Bewegungen mit klaren Zielen und Argumenten zu organisieren und zu finanzieren. Deutlich wird dies etwa an Phänomenen wie der Dämonisierung der Hypothekenbanken Freddie Mac und Fannie Mae, der Blockade von Finanzmarktreformen auf nationaler wie internationaler Ebene, den Aufrufen »populistischer« rechter Politiker zum Klassenkampf von oben im öffentlichen Sektor, an der umfassenden neoliberalen Definitionsmacht über das Problem des Klimawandels, dem Bestsellerstatus von Hayeks Weg zur Knechtschaft, den Astroturfing-Kampagnen der Tea Party und vor allem an einer klaren Verschiebung im öffentlichen Bewusstsein: Nicht mehr Banken und Hedge-Fonds gelten als Ursache der Krise, sondern eine unverantwortliche Finanzpolitik des Staates. All das zeugt von einem Maß an Kohärenz und Beständigkeit, das sowohl der Kontinuität der intellektuellen Tradition als auch beharrlichen Abgrenzungen der Neoliberalen entspringt und durchaus analytische Verallgemeinerungen zulässt.
Sicherlich verfügen die Neoliberalen nicht über eine fixe Utopie, die ihnen bei sämtlichen politischen Schritten als Kompass dient. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil sie sich nicht einmal über Grundbegriffe wie »Markt« und »Freiheit« völlig einig sind, wie wir später sehen werden. Man kann sogar Neil Brenner et al. und Naomi Klein zustimmen, dass ihr bevorzugtes Handlungsfeld die Krise ist, da sie mehr Spielraum für kühne »Reform«-Experimente bietet, die später nur weitere Krisen verursachen.51 Dennoch löst sich der Neoliberalismus nicht in stupiden Empirismus oder pragmatische Beliebigkeit auf. Sein Umgang mit Krisen offenbart eine gewisse beharrliche Logik, die von direkter Bedeutung ist, um seine unerwartete Stärke in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise zu begreifen.
Von dieser Annahme ausgehend versuchen wir das circa bis zu den Achtzigerjahren entstandene neoliberale Gedankengebäude telegrammartig darzustellen, wobei ein Anspruch auf Letztgültigkeit naturgemäß nicht erhoben werden kann. Wie die Neoliberalen selbst werden wir dabei disziplinäre Grenzen überschreiten. Die folgenden dreizehn Gebote wurden auch deshalb ausgewählt, weil sie für die Entwicklungen während der 2007 einsetzenden Krisenperiode unmittelbare Relevanz besitzen. Die Frage, wer – inner- wie außerhalb der MPS – wann welchen Gedanken vertreten hat, umgehen wir zugunsten knapper Kernaussagen, bei denen wir von Details und vollständigen Nachweisen zudem absehen.52
[1] Entgegen der klassisch-liberalen Lehre geht der Neoliberalismus von dem Eingeständnis aus, dass sich seine Vision der guten Gesellschaft nur durch die Konstruktion ihrer Voraussetzungen verwirklichen lässt – sie ergeben sich nicht einfach so ohne konzertierte politische Anstrengungen und Organisation. Wie Foucault 1978 hellsichtig bemerkte: »Der Neoliberalismus stellt sich […] nicht unter das Zeichen des Laissezfaire, sondern im Gegenteil unter das Zeichen einer Wachsamkeit, einer Aktivität, einer permanenten Intervention.«53 Die Aufforderung, im Angesicht mangelnder epistemischer Sicherheit zu handeln, bildet den Kern des »Konstruktivismus« wie auch des Neoliberalen Denkkollektivs. Der klassische Liberalismus lehnte dies ab: Ihm stellte sich, wie Sheldon Wolin einmal schrieb, »das Problem als eines der Versöhnung von Freiheit und Autorität dar, und er löste es, indem er Autorität im Namen persönlicher Freiheit zerstörte und durch Gesellschaft ersetzte«.54 Die Neoliberalen weisen ›Gesellschaft‹ als Lösung zurück und errichten stattdessen neue Formen von Autorität. Weiter unten werden wir sehen, wie sich dies in verschiedene Argumente für einen starken Staat übersetzt, der eine stabile Marktgesellschaft hervorbringen und schützen soll.
[2] Diese konstruktivistische Orientierung wirft die diffizile Frage nach der ontologischen Beschaffenheit des neoliberalen Marktes auf. Welche Art von »Markt« wollen Neoliberale fördern und schützen? Während die Chicago School mit dem Versuch Karriere machte, eine Variante der neoklassischen Wirtschaftstheorie mit neoliberalen Prinzipien zu verbinden, haben unterschiedliche Fraktionen der MPS den Markt ganz anders gefasst. So erkannte etwa der »radikal-subjektivistische« Flügel der Österreichischen Schule seine Grundlage in der Dynamik erfinderischer Entrepreneure, von deren Produkten die Konsumenten noch gar nicht wissen, dass sie sie brauchen, da die Zukunft prinzipiell unerkennbar ist.55 Die in der MPS vielleicht vorherrschende (und später kulturell dominierende) Version geht auf Hayek selbst zurück: Er bediente sich wesentlich der Metaphern von Gehirn und Computer, um den »Markt« als einen jedem menschlichen Kopf überlegenen Informationsprozessor darzustellen.56 Diese Version beruht stark auf modernen erkenntnistheoretischen Annahmen, die zu der am engsten mit der neoliberalen Weltanschauung verbundenen philosophischen Position geworden sind.
Hier stoßen wir auf eine erste direkte Beziehung zum Narrativ über die globale Krise. Denn aus dieser Perspektive betrachtet enthalten Preise auf einem effizienten Markt alle relevanten Informationen und entziehen sich jeder Vorhersage. Der Markt sprengt demnach grundsätzlich die Fähigkeit des Staates zur Informationsverarbeitung, und dies ist die wesentliche Begründung dafür, dass der Sozialismus nicht funktionieren kann. Alle Versuche zur Überlistung des Marktes müssen scheitern – selbst wenn er sich in der Krise im freien Fall befindet. Allerdings ist dies mitnichten eine rein negative Lehre: Viele der Theorien und Algorithmen, mit deren Hilfe die obskuren, zur Krise führenden Finanzinstrumente und -praktiken entwickelt wurden, beruhen auf einer Fassung der Effizienzmarkthypothese.
Eine weitere, damit teilweise konkurrierende Marktdefinition entstammt dem deutschen Ordoliberalismus. Demnach muss ein funktionierender Marktwettbewerb direkt vom Staat organisiert, d. h. in unterschiedliche soziale Institutionen eingebettet werden.57 Anders als in der Literatur häufig behauptet wird, sind sich unsere Protagonisten in der entscheidenden Frage nach dem Wesen des Marktes somit gar nicht einig. Gewiss schwören sie nicht allesamt auf die neoklassische Lehre oder das kybernetische Marktverständnis. (Dies verweist erneut auf die im ersten Kapitel getroffene analytische Unterscheidung.)
Es mag unglaublich klingen, doch sowohl die neoklassische Tradition als auch das NDK sind in der analytischen Bestimmung von Struktur und Charakter der von beiden als »Markt« bezeichneten Erscheinung äußerst vage geblieben. Beide rücken ins Zentrum, was er angeblich tut, und kümmern sich kaum darum, was er tatsächlich ist. Den Neoliberalen ermöglicht dies ein Ausweichen vor dem fundamentalen Widerspruch zwischen ihren konstruktivistischen Tendenzen und der durchgängigen Berufung auf einen monolithischen Markt, der während der gesamten Geschichte und überall auf der Welt existiert habe – denn wie sollte »gemacht« sein, was ewig und unwandelbar ist? Sie lösen dieses Problem durch die zunehmende Verwischung aller Unterschiede zwischen Staat, Gesellschaft und Markt, während sie zugleich behaupten, ihr politisches Projekt ziele auf die Erneuerung der Gesellschaft durch Unterordnung unter den Markt.
[3] Auch ohne umfassenden Konsens über das »wirkliche« Wesen des Marktes konnten sich die Neoliberalen darauf einigen, die von ihnen angestrebte Marktgesellschaft in der öffentlichen Auseinandersetzung als einen »natürlichen« und unentrinnbaren Zustand darzustellen. Das neoliberale Denken bringt folglich ein eigentümliches Hybrid aus »Konstruiertem« und »Natürlichem« hervor, das den Markt vielfältige Gestalten annehmen lässt. Praktisch erforderte dies eine Integration naturwissenschaftlicher Metaphern in das neoliberale Narrativ. (Dies wird in Kapitel 6 eingehender untersucht.) Bemerkenswert ist dabei, dass MPS-Mitglieder den Markt als ein evolutionäres Phänomen zu zeichnen begannen, schon lange bevor die Biologie die Physik als die für das moderne Weltbild wichtigste Wissenschaft ablöste.58 Wenn der Markt nur ein ausgefeilter Informationsprozessor war, dann das Gen in seiner biologischen Nische ebenso. Selbst unschuldige, ahnungslose Tiere waren demnach wie neoklassische Wirtschaftssubjekte auf die Maximierung alles nur Erdenklichen aus, und in den kognitionswissenschaftlichen Modellen der »Neuroökonomie« traten sogar Neuronen als Marktteilnehmer auf. »Biomacht« wird dazu eingesetzt, die Natur und unsere Körper für Marktsignale empfänglicher zu machen.59 Durch