Untote leben länger. Philip Mirowski
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Untote leben länger - Philip Mirowski страница 12
Als nächstgrößere Puppe, die dem Denkkollektiv als ein öffentliches Gesicht diente – aber ihre Verbindungen zur MPS nur selten öffentlich zugab –, lassen sich bestimmte, bereits vor 1980 von den Neoliberalen eroberte akademische Einrichtungen betrachten: die wirtschaftswissenschaftliche und die juristische Fakultät der University of Chicago, die London School of Economics, das Institut universitaire des hautes études internationales (Genf), die University of St. Andrews (Schottland), wirtschaftswissenschaftliche Institute in Freiburg, die Virginia School und die George Mason University. Eine weitere Puppe bildeten die für Bildungsarbeit und die Verbreitung neoliberaler Doktrinen zuständigen Stiftungen; anfangs zählten dazu etwa der Volker Fund, die Earhart Foundation, die Relm Foundation, das Lilly Endowment, die John M. Olin Foundation, die Bradley Foundation und die Foundation for Economic Education. Schon aus steuerlichen Gründen und zur Wahrung eines Anscheins von Neutralität wurden sie oft als gemeinnützige oder karitative Einrichtungen gegründet.38 Mitunter versorgten sie nicht nur treue Anhänger mit gutdotierten Jobs, sondern erfüllten auch wichtige organisatorische Funktionen: Der Volker Fund führte beispielsweise ein umfangreiches »Adressbuch« sympathisierender neoliberaler Intellektueller, das bis 1956 auf 1841 Namen angewachsen war.39 Die nächste Ebene bestand aus breit ausgerichteten Denkfabriken (Institute for Economic Affairs, American Enterprise Institute, Schweizerisches Institut für Auslandforschung, Hoover Institution an der Stanford University) und Satellitenorganisationen wie der Federalist Society, in denen Neoliberale wirkten, die teilweise zugleich angesehene Akademiker aus unterschiedlichen Disziplinen waren. Die Denkfabriken wiederum versteckten sich häufig hinter spezialisierten Ablegern, die bei Bedarf zügig Positionspapiere für sympathisierende Politiker ausarbeiten konnten und in Nachrichten- wie Meinungsmedien präsent waren.40
Um ihre Botschaften rund um den Globus effektiv zu verbreiten, schufen die Neoliberalen sogar eine Art »Mutter aller Think-Tanks«: Die 1981 von Antony Fisher gegründete Atlas Economic Research Foundation sollte MPS-nahe Gruppen in diversen Ländern beim Aufbau von Denkfabriken unterstützen. Laut eigenen Angaben war sie an der Gründung eines Drittels aller »marktorientierten« Think-Tanks auf der Welt beteiligt, darunter das Fraser Institute (Kanada), das venezolanische Centro de Divulgación del Conocimiento Económico para la Libertad (CEDICE), das Centar za slobodno tržište (Belgrad), das Liberty Institute (Rumänien) und Unirule (Peking).41 Die Stiftung diente unter anderem als Geldwaschanlage, die Spenden von Konzernen wie Philip Morris und Exxon an stärker spezialisierte Think-Tanks weiterleitete. Zur effektiveren Verbreitung der Arbeitsergebnisse der inneren Puppen schuf das Denkkollektiv später außerdem eine journalistische Ebene, mit der etwa Rupert Murdochs News Corporation,42 die Bertelsmann AG und ein breites Spektrum an Blogs und Social-Networking-Webseiten verbunden sind.
Gegenüber Sponsoren haben die Betreiber der russischen Schachtelpuppe offen zugegeben, dass es sich bei diesen Institutionen um ein integriertes System zur Produktion politischer Ideen handelt. Richard Fink zum Beispiel, der maßgeblich daran beteiligt war, die George Mason University durch direkte Beziehungen zur Koch Foundation (deren Präsident er später wurde) zu einem neoliberalen Vorposten auszubauen, teilte potenziellen Förderern mit,
»die Umsetzung von Ideen in Taten erfordere die Entwicklung geistiger Rohstoffe, ihre Verwandlung in spezifische politische Handelsartikel und die Vermarktung und Distribution dieser Produkte an die Bürger resp. Verbraucher. Förderern empfahl Fink, entlang der gesamten Produktionskette in den Wandel zu investieren: in Wissenschaftler und Universitätsprogramme, die den geistigen Rahmen für gesellschaftliche Transformationen entwickeln, in Think-Tanks, die wissenschaftliche Ideen in politische Vorschläge übersetzen, und in Implementierungsgruppen, die diese Vorschläge auf den politischen Markt und schließlich an die Verbraucher bringen.«43
Ungeachtet der Rhetorik von Märkten und Verbrauchern handelte es sich in Wirklichkeit um eine vertikal integrierte Reihe von Operationen, deren Konturen schließlich in den Achtzigerjahren deutlich wurden. Die Ebene der Think-Tanks wuchs Hand in Hand mit der internationalen Präsenz der MPS, wie Abb. 2.1 zeigt. Solche Indikatoren lassen erahnen, wie viel Vorarbeit das NDK leistete, bevor seinem von Fink beschriebenen Projekt in den Achtzigerjahren der Durchbruch gelang.
Abb. 2.1: Zunahme von MPS-nahen Think-Tanks
Quelle: Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft
Je weiter wir in die Gegenwart vorrücken, umso mehr äußere Schichten weist die Schachtelpuppe auf. So stehen etwa hinter vermeintlichen Graswurzelbewegungen, die punktuelle – oftmals religiös ausgerichtete – Kampagnen durchführen, mitunter in Wirklichkeit sogenannte Astroturf-Organisationen (dt. »Kunstrasen«).44 Der Anschein spontaner Organisation ist dabei oft genauso wichtig wie die konkrete politische Aufgabe der jeweiligen Astroturf-Kampagne. Dass die einer bestimmten Ebene zugeordneten Akteure mehrere Rollen gleichzeitig spielen und zwischen den verschiedenen Ebenen vielfältige starke Verbindungen existieren, blieb Außenstehenden meist verborgen, da ihr Blick nur selten über die einzelne Puppe hinausreichte, die sie gerade vor sich hatten. Dies förderte zugleich den Eindruck einer »spontanen Ordnung«, die Neoliberale so schätzen, auch wenn es sich oftmals um nichts dergleichen handelte. Am informellen Charakter der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Ebenen scheiterten überdies gewöhnlich die Versuche, das neoliberale Denkkollektiv als veritable Verschwörung darzustellen. Als Denkschule, die auf eine politische Massenbewegung hinarbeitete, ging es auch über eine solche hinaus, und zudem wurde es im Lauf der Zeit durch trial and error aufgebaut. Sein Erfolg ließ das Denkkollektiv bald auf eine Größe anwachsen, bei der es gar nicht mehr zu überblicken war.
Abb. 2.2: Gründungstreffen der MPS (1947)
Das neoliberale Gebäude der MPS beruhte auf einigen hauptsächlich europäischen und amerikanischen Grundpfeilern, umschloss allmählich eine Vielfalt wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Denkschulen und bot eine transnationale Agora, auf der Lösungen für mutmaßliche Probleme debattiert werden konnten; sein bewegliches Dach konnte etablierte Machtbeziehungen in Universitäten, Politik und Gesellschaft überspannen. Die MPS war nie provinziell, sondern bereits global orientiert, bevor »Globalisierung« ein Modewort wurde. Dies machte Max Thurn (-Valsassina) in seiner Eröffnungsrede auf dem MPS-Treffen 1964 in Semmering deutlich: »Als Mitglieder der Mont Pèlerin Society interessieren wir uns nicht für die Probleme einzelner Länder oder selbst Ländergruppen. Was uns bewegt, sind allgemeine Themen wie Freiheit und Privatinitiative.«45 Die Arbeitsteilung zwischen globaler Denkschule und lokalem politischem Handeln erwies sich rasch als Erfolg, während die auf 500 Personen begrenzte Mitgliedschaft in der MPS ein exklusives Distinktionsmerkmal für namhafte Konservative wurde. Wie sich die geografische Reichweite der Organisation entwickelte, zeigen Weltkarten für das Gründungsjahr und für 1991 (Abb. 2.2 und 2.3).
Abb. 2.3: MPS-Mitglieder (1991)
Die ungewöhnliche Struktur des Denkkollektivs erklärt teilweise, warum sich der Neoliberalismus nicht in einer Handvoll Merksätze zusammenfassen lässt. Er ist vielmehr ein (innerhalb gewisser Grenzen) pluralistisches Unternehmen, das sich von drei Hauptgegnern abzugrenzen sucht: vom klassischen Laissez-faire-Liberalismus, Sozialliberalismus und Sozialismus. Während sich der um die Errichtung von Schutzwällen zwischen Ökonomie und Politik bemühte klassische Liberalismus durch