Hölle und Paradies. Bettina Baltschev
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In der Wirklichkeit dagegen ergeben sich hoffnungsvolle Möglichkeiten. Fritz Landshoff durchschreitet die Bahnhofshalle der Centraal Station – wir unterstellen ihm, dass er keine Muße hat, den imposanten roten Backsteinbau näher zu betrachten – und hat nun die Wahl. Er kann in die Tram steigen, zum Spui fahren, dem quirligen kleinen Platz im Süden der Innenstadt, und die letzten Meter zum Verlaghaus an der Keizersgracht laufen. Oder er geht den ganzen Weg zu Fuß, nutzt die Chance, nach der langen nächtlichen Reise die Glieder zu strecken und sich der erwachenden Stadt hinzugeben. Weit ist es nicht, fünfzehn Minuten, höchstens zwanzig, wenn man sich Zeit lässt. Verglichen mit Berlin ist in dieser Stadt gar nichts weit, das wird Landshoff schnell merken. Auch dass die Luft hier anders ist, feuchter und kühler, besonders im April. Es lässt sich freier atmen, im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Nehmen wir also an, Fritz Landshoff entscheidet sich zu laufen, dann geht er zunächst den Damrak hinunter. Heute eine Meile mit Geschäften, die Touristen zum Verzehr von Burgern, Dönern und Patat – Pommes frites – oder zum Kauf von Amsterdam-Mützen und Schoko-Penissen überreden wollen, ist der Damrak in den 1930er Jahren noch der »rote Teppich« zur Stadt, mit teuren Hotels, Geschäften und der Amsterdamer Börse.
Doch Fritz Landshoff nimmt von all dem keine Notiz, denn Querido wartet. Beherzten Schrittes geht er weiter, über den Dam, ignoriert Het Paleis, den Palast, der einst als Rathaus gebaut wurde und nun vom Königshaus für repräsentative Zwecke genutzt wird, ebenso wie das Warenhaus Bijenkorf, das erste Haus am Platz für die wohlhabenden Bürger der Stadt. Lassen wir Fritz Landshoff nun rechts abbiegen, dann kommt er zur Singel, dem inneren und kürzesten Kanal im Halbrund des Grachtengürtels, der sich um den ältesten Teil der Stadt legt. Von der Singel über die Herengracht hinaus stadtauswärts und dann nach links sind es nur noch ein paar hundert Meter, auf denen Amsterdam allerdings seine ganze Postkartenschönheit entfaltet. In den Grachten spiegeln sich die prächtigen Bürgerhäuser mit ihren Giebeln und großen Fenstern, die Einblick gewähren in wohldekorierte Wohn- und Arbeitszimmer. Über das Wasser gleiten Boote. Auf den Straßen und über die steilen Brücken radeln die Leute zu ihren Werkstätten und Büros, so souverän und schnell, dass man als Fußgänger besser gleich Platz macht. Fritz Landshoff muss Amsterdam sehr aufgeräumt und übersichtlich vorkommen, fast idyllisch, und mit ein bisschen Phantasie kann man es sich heute noch gut vorstellen, denn die Kulisse ist immer noch dieselbe, nur die Autos sollte man sich wegdenken, die vielen Touristen, Reklame- und Straßenschilder. Doch nun steht unser Mann endlich vor der Keizersgracht 333. Die Glocken der nahen Westerkerk schlagen zehn Mal. Fritz Landshoff ist pünktlich.
2
Keizersgracht 333:
Der Ermöglicher
Das ehemalige Verlagshaus in der Keizersgracht 333
Im Vergleich mit anderen Grachtenhäusern in Amsterdam ist dieses hier ein eher unscheinbarer Bau, vier Etagen graubrauner Backstein, kein verspielter Giebel, kein Hinweis auf die Erbauer in Form eines Schiffs, eines Fischs oder eines Ährenkranzes über dem Eingang. Die mannshohen Fenster im Hochparterre geben den Blick frei auf einen tiefen Raum, in dessen Mitte ein großer Esstisch steht, darauf ein paar Zeitschriften, eine Sonnenbrille, ein Kaffeebecher, ein Strauß langstieliger weißer Rosen im Endstadium. Es ist ein privates Stillleben, und obwohl kein Mensch zu sehen ist, fühle ich mich ertappt und flüchte die Treppenstufen zurück auf die Straße. Denn eigentlich wollte ich nur bestätigt finden, was ich längst schon wusste: Bücher werden hier nicht mehr gemacht. Doch die Adresse ist so legendär, dass Fritz Landshoff sogar seine Memoiren nach ihr benennt: Amsterdam, Keizersgracht 333.
Im April 1933 wird der junge Verleger aus Berlin hier von dem Menschen erwartet, in dessen Auftrag Nico Rost ihn am Vortag aufgesucht hatte, von Emanuel Querido. Doch Querido empfängt ihn nicht allein, neben ihm steht Alice van Nahuys, seine engste Mitarbeiterin. Deren Kompetenzen gehen weit über die einer persönlichen Assistentin, Sekretärin oder Lektorin hinaus, weshalb ihr offizieller Titel auch directrice lautet, Direktorin. Überhaupt ist sie eine eindrucksvolle Erscheinung, wie Fritz Landshoff sich erinnert: »Sie war groß, elegant, gutaussehend, energisch, sehr belesen und beherrschte vier Sprachen fließend (Holländisch, Französisch, Englisch und Deutsch). Da Querido kaum fremde Sprachen verstand und sie gar nicht sprach, war seine ungefähr dreißig Jahre jüngere Mitarbeiterin unser Dolmetscher. Sie war unserer geplanten Verlagsgründung offenbar sehr geneigt.« Kein Wunder, schließlich verspricht ein neuer Verlag auch ihr neue Möglichkeiten, neue Begegnungen und frischen Wind in der täglichen Arbeit. Ganz so jung, wie Landshoff sie einschätzt, ist sie allerdings doch nicht mehr. Mit 39 Jahren ist sie sieben Jahre älter als Fritz Landshoff und 23 Jahre jünger als Emanuel Querido, der ihr seit der Gründung des niederländischen Verlages 1915 über die Jahre immer mehr Verantwortung übertragen hat.
Dennoch darf man sich nicht täuschen lassen, wenn Querido neben seiner directrice fast ein wenig unscheinbar wirkt. Am Ende wird er das letzte Wort behalten. Bis dahin überlässt er ihr jedoch gern die Konversation, denn, wie gesagt, Fremdsprachen sind seine Sache nicht. Auch »groß, elegant und gutaussehend« sind übrigens keine Attribute, die auf ihn zutreffen. Arie, Emanuel Queridos einziger Sohn, beschrieb das Äußere seines Vaters einmal so: »Sein Haar war dunkelblond, seine Augen hellblau und von einer außergewöhnlichen Klarheit; sein Gesicht war rund und hatte etwas Sanftes, beinahe Weibliches an sich, das durch sein weiches Haar noch unterstrichen wurde und dem auch sein kurzer Schnurrbart nur wenig Männliches hinzufügen konnte. Seine Erscheinung war stets sehr akkurat; er machte immer einen ›sauberen‹ Eindruck, stolz war er vor allem auf seine Hände, die sehr klein, aber muskulös waren, breit und kräftig, und die er immer sorgfältig pflegte. In seiner Kleidung kam die merkwürdige wankelmütige – oder ambivalente – Haltung zum Ausdruck, die er damals – und eigentlich sein ganzes Leben – einnahm.«
Wankelmütig, ambivalent? Emanuel Querido ist einer der erfolgreichsten Verleger der Niederlande und wird zum Ermöglicher eines bedeutenden deutschen Exilverlages – welchen Grund sollte dieser Mann haben, nicht stabil und selbstbewusst durchs Leben zu gehen? Queridos Biograf Willem van Toorn glaubt, dass sich die Unsicherheit des Verlegers aus seiner Herkunft erklärt. Querido habe immer mit der begrenzten kleinbürgerlichen Welt der sephardischen Einwanderer gehadert, die in Amsterdam vor allem in Diamantschleifereien und anderen kleinen Handwerksbetrieben beschäftigt sind, so wie Emanuels Vater. Dabei schafft der es immerhin, mit der Familie aus der Jodenbuurt in ein weniger enges Quartier am Stadtrand zu ziehen – im Judenviertel zwischen Kloveniersburgwal und Prins Hendrikkade drängen sich sieben Mal mehr Menschen als anderswo in der Stadt. Seine drei Söhne David, Emanuel und Israël schickt Aron Querido auf eine Privatschule, zum Musikunterricht, zu Theater- und Zirkusvorstellungen, und die ganze Familie profitiert vom Modernisierungsschub, der das westliche Europa zur Jahrhundertwende erfasst und der sich in Amsterdam unter anderem in markanten städtebaulichen Veränderungen niederschlägt.
Das Antlitz von Amsterdam, wie wir es heute kennen, bekommt Ende des 19. Jahrhunderts die entscheidenden Konturen. 1889 etwa wird der Hauptbahnhof eröffnet, Amsterdam Centraal Station. Mit seinen roten Backsteinen, den beiden Türmen und farbigen Verzierungen erinnert er eher an ein Schloss als an einen Bahnhof. Die Pracht soll wahrscheinlich jene Gemüter beschwichtigen, die seinen Standort bereits vor dem Richtfest für komplett ungeeignet halten. Denn es ist schon wahr, kommt man vom Stadtzentrum und will zum Hafen oder umgekehrt, dann steht die Centraal Station wie ein großer roter Riegel im Weg, alle Fußgänger, Rad- und Autofahrer landen in einer Sackgasse und müssen auf Schleichwegen um den Bahnhof herum kurven. Erst seit einigen Jahren wird durch umfängliche Baumaßnahmen versucht, die Logistik zu verbessern. Das ist vor allem nötig, seit die westlichen und östlichen Hafengebiete als Wohnquartiere erschlossen werden und auch Amsterdam-Noord, ein lange vernachlässigtes Viertel hinter dem Hafen, immer beliebter wird.
Dass die Centraal Station