Hölle und Paradies. Bettina Baltschev
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Man muss sich Amsterdam in den Jahren zwischen 1880 und 1900 also als eine große Baustelle vorstellen, eine Stadt im Aufbruch, die den internationalen Vergleich nicht scheut. Vielleicht war Emanuel Querido, geboren 1871, ja bei einer der feierlichen Eröffnungen dabei, am Bahnhof, am Museum oder am Hotel, hat aus der Ferne zugeschaut, wie sich die Bauherren in Frack und Zylinder gegenseitig zuprosten, die dazugehörigen Damen ihre neuesten Kleider vorführen und eine Kapelle das passende Ständchen spielt. Aber vielleicht ist er auch viel zu beschäftigt, sein eigenes Leben wieder und wieder umzubauen. Denn so verheißungsvoll die Zukunft für andere auch scheinen mag, Emanuel Querido braucht fast drei Jahrzehnte, bis er für sich den richtigen Platz findet und zu dem erfolgreichen Verleger wird, der auch noch Kapazitäten für einen deutschen Exilverlag hat.
Knapp ein halbes Jahrhundert bevor Emanuel Querido und Alice van Nahuys Fritz Landshoff in der Keizersgracht 333 willkommen heißen, soll Querido zunächst dem Vater in dessen Fach folgen und ebenfalls Diamantschleifer werden. Doch der Ehrgeiz des Sohnes reicht nicht aus, dem elterlichen Wunsch zu entsprechen. Ein vorgeschobenes Augenleiden erlöst ihn wie auch seinen ein Jahr jüngeren Bruder Israël vom Los des Handwerkerdaseins. Beide treten in die sozialdemokratische Partei ein, ziehen durch die Cafés der Stadt und schließen Freundschaft mit Dichtern, Gewerkschaftern und der städtischen Bohème, deren Protagonisten den Geruch der großen Welt von ihren Ausflügen nach Paris mitbringen. Die Querido-Brüder haben literarische Ambitionen, von denen sie allerdings zunächst nicht leben können, weshalb Israël sich als Literaturkritiker versucht und bei Emanuel kurzzeitig der absonderliche Plan aufkommt, Turnlehrer zu werden. Der Plan scheitert jedoch schon an der Eignungsprüfung, und Emanuel muss sich von seinen Eltern, bei denen er noch wohnt, immer wieder fragen lassen, was denn nun aus ihm werden soll. Ein zweites schwarzes Schaf in der Familie können sie nicht gebrauchen, diese Rolle hat nämlich schon Emanuels älterer Bruder David übernommen, der durch die Casinos der Stadt zieht und von weiß Gott welchen Einkünften lebt. Und der jüngere Bruder, dem Emanuel besonders nahesteht, feiert schon bald mit naturalistischen Romanen über das Leben der »einfachen Leute« literarische Erfolge, die ihn zeitweise zu einem der bekanntesten Schriftsteller der Niederlande werden lassen. Dabei müsste Israël nicht einmal von seinen Buchverkäufen leben, hat er doch eine Frau aus wohlhabenden Kreisen geheiratet, die ihn großzügig aushält und auch seine vielen Freunde beköstigt, die im Haus am Rembrandtplein ein und aus gehen. Man braucht nur wenig Phantasie, um sich auszumalen, wie die Brüder sich mehr und mehr von einander entfremden, wie die Arroganz des einen und der Neid des anderen unüberwindbare Gräben entstehen lassen. Denn auch Emanuel Querido hat sich bereits so ausführlich an einem Roman versucht, dass im Laufe von über zwanzig Jahren ein ganzer Zyklus daraus geworden ist. Zehn Bände umfasst Het geslacht der Santeljano’s (Das Geschlecht der Santeljanos) über eine Einwandererfamilie aus Portugal. Aber auch wenn der Umfang eindrucksvoll ist, Leser findet dieses Opus magnum, das Querido unter dem Pseudonym Joost Mendes verfasst, kaum.
Und so führt Emanuel Querido lange Zeit ein Leben, das man heutzutage wohl prekär nennen würde. Es ist ein Suchen nach dem richtigen Ort, der richtigen Aufgabe, ein ständiges Infragestellen der eigenen Person und Position. Nur, was Anfang des 21. Jahrhunderts als Selbstfindung durchgeht, gilt zu Beginn des 20. Jahrhunderts als unstet, als wankelmütig und ambivalent, und wahrscheinlich fühlt sich auch Querido selbst nicht wohl damit. Er weiß, dass er Talent hat, nur eben noch nicht recht wofür. Sicher ist bloß, dass seine Bestimmung »irgendetwas mit Büchern« zu tun haben sollte. Zunächst arbeitet er in einer Buchhandlung mit. Später eröffnet er seine eigene. Die liegt an der Amstel, unweit der Universität, und wird bald Treffpunkt von Studenten und Gelehrten, die ihre freien Stunden plaudernd und diskutierend bei den Queridos verbringen, denn mittlerweile ist auch Emanuel verheiratet und wohnt mit seiner Frau Jane über dem Geschäft. 1901 wird Arie geboren. Ein Jahr später reicht es Emanuel Querido nicht mehr, Bücher nur zu verkaufen. Er beginnt, auch welche zu verlegen. Vor allem sozialistische und »fortschrittliche« Literatur liegt ihm am Herzen, aber so richtig gut laufen die Geschäfte nicht, von einer Schopenhauer-Gesamtausgabe erscheint lediglich der erste Band.
Um finanziell nicht völlig einzubrechen, lässt sich Emanuel Querido schließlich als Bürokraft in einem Theater anstellen. Wie deprimierend das sein muss für einen Mann Ende dreißig und mit »Hang zum Höheren«, man kann es sich lebhaft vorstellen. Dann schon lieber Einkäufer in der Buchhandlung des gerade eröffneten Warenhauses Bijenkorf am Dam. Der Name legt bereits nahe, wie es hier zugeht, summend und geschäftig wie in einem Bienenkorb. Während 1914 im Rest von Europa der Erste Weltkrieg losbricht, geht das Leben in den Niederlanden gezellig weiter. Emanuel Querido steht in Amsterdam »zwischen Bonbons und Lingerie«, blickt auf das täglich anschwellende Gewimmel und langweilt sich maßlos. Die Damen und Herren der besseren Amsterdamer Gesellschaft ziehen an ihm vorbei und sind auf der Suche nach dem neuesten Duft und dem letzten Modeschrei. Sie können es sich leisten, Holland hält sich neutral aus den Kriegshandlungen heraus und wird, anders als das eigentlich ebenfalls neutrale Belgien, auch nicht vom deutschen Militär überrollt. Aber erst wenn das Bedürfnis nach Schönheit gestillt ist und sich in der Tasche noch eine Lücke findet, darf es für die Herrschaften im Bijenkorf vielleicht auch noch ein Buch sein. Keine allzu schwere Lektüre bitte, etwas Unterhaltsames gern, etwas Schöngeistiges für abends am Kamin oder sonntags am Strand. Wenn die Damen und Herren nur wüssten, was in dem Mann an der Kasse vorgeht, der sie höflich, aber distanziert bedient, der hier nur steht, weil er Geld braucht. Nicht einmal ein Jahr hält Emanuel Querido es im Bijenkorf aus, dann geht er einfach nicht mehr hin, die Kündigung folgt auf dem Fuße. Querido ist 44 Jahre alt und wahrscheinlich denkt er sich, jetzt oder nie. Viel zu verlieren hat er nicht, in den Krieg ziehen muss er auch nicht, also gründet er 1915 eine Verlagsgesellschaft, Em. Querido’s Uitgevers-Maatschappij. Um die Kosten zu minimieren, bittet er beim renommierten Verlag Holkema & Warendorf um Unterschlupf und kann so auf dessen klingende Adresse zurückgreifen: Keizersgracht 333. Bald darauf lässt sich Querido von dem berühmten Architekten Hendrik Petrus Berlage ein dynamisch geschwungenes Signet aus den Lettern E und Q entwerfen, das von nun an alle sorgsam aufgemachten Bücher aus seinem Hause ziert. Wer ein Buch von Querido kauft, soll nicht nur ein gutes, sondern auch ein schönes Buch in der Hand halten.
Seine directrice Alice van Nahuys hatte Emanuel Querido übrigens im Warenhaus kennengelernt und abgeworben, ihr Talent fürs Geschäftliche, für Fremdsprachen und ihren jugendlichen Geist kann er gut gebrauchen. Schon das erste Programm der beiden besteht aus acht Büchern, darunter die Biografie von Jean Jaurès, jenem französischen Sozialisten, der 1914 in einem Pariser Café von einem Nationalisten ermordet worden war. Der verlegerische Durchbruch folgt jedoch erst 1918 mit Het vuur (Das Feuer), dem Kriegstagebuch des französischen Schriftstellers Henri Barbusse. Dass das Buch von der Justiz als pornografisch eingestuft wird, belebt die Nachfrage enorm.
Der Plan geht auf. Schon nach wenigen Jahren gehört Em. Querido’s Uitgevers-Maatschappij zu den erfolgreichsten Verlagen der Niederlande. Der Literaturwissenschaftler August Lammert Sötemann, der die Verlagsgeschichte von 1915 bis 1990 notiert hat, bringt es mit einem schlichten Satz auf den Punkt: »De uitgeverij was een goudmijn« – der Verlag war eine Goldmine. Eine Mine, in der Querido unermüdlich arbeitet und seine wertvollen Stücke persönlich in den Buchläden abliefert, wie sein Sohn Arie hinzufügt: »Mit der schweren und immer wieder herzlich verfluchten Tasche – ›dem Murmeltier‹ – zog er durch das ganze Land, überfiel die Buchhändler und quasselte ihnen den Laden voll.«
Und endlich, 1930, wagt sich Emanuel Querido daran, sein eigenes Werk noch einmal anzubieten. Ein Rotterdamer Verlag hatte die zehn Bände von Het geslacht der Santeljano’s bereits verlegt, nun also soll die ausufernde – und durchaus autobiografische