Das Insolvenzgeld als Mittel zur Fortführung und Sanierung von Unternehmen. Nick Marquardt
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Den Arbeitnehmern drohen in der Krise meist Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg. An diesem Punkt in der Erwerbsbiografie angekommen, werden die Arbeitnehmer zwangsläufig das erste Mal mit dem Insolvenzgeld konfrontiert. Ohne allzu viel vorweg nehmen zu wollen, handelt es sich (noch völlig unjuristisch beschrieben) um eine von anderen Unternehmen vorfinanzierte Geldleistung des Staates an Arbeitnehmer insolventer Unternehmen, die dem Arbeitslosengeld ähnelt. Darunter kann man sich auch ohne juristische Spezialkenntnisse etwas vorstellen. Das Insolvenzgeld hat aber noch wesentlich mehr Funktionen und Effekte. Es ist für die Mehrheit der Insolvenzverwalter die „Mutter“ der erfolgreichen Sanierung. Geschäftsfortführung, Insolvenzplan, „übertragende Sanierung“, alle Sanierungsinstrumente des modernen Insolvenzrechts sind letztlich ohne Insolvenzgeld und Vorfinanzierung undenkbar. Die Einführung des Insolvenzgelds durch den Gesetzgeber hat seinerzeit die „Rettung“ eines Unternehmens gleichwertig neben dessen Zerschlagung und Verwertung treten lassen.5 Doch wie nutzt man das Insolvenzgeld zur Sanierung? Welche Probleme können dabei auftauchen? Wie „sanierungsfreundlich“ ist das Insolvenzgeld? Werden die Arbeitnehmer ausreichend durch das Insolvenzgeld geschützt? Diesen und weiteren Fragen will ich nachgehen, nachdem ich eine weitere Kernfrage beantwortet habe: Braucht es überhaupt eine Auseinandersetzung mit dem Insolvenzgeld?
5 Dazu schon Grub, ZIP 1993, 393, (397).
III. Anlass der Darstellung
1. Wozu braucht es weitere Überlegungen zum Insolvenzgeld?
Das ist die erste Frage, die man gestellt bekommt und sich vor allem selbst stellt, wenn man über eine einzelne Abhandlung zu einem Thema sinniert. Reine Theorie hat nur selten einen über die Wissenschaft hinausgehenden Mehrwert. Es ist nicht mein Anspruch, zufällige theoretische Belanglosigkeiten darzustellen. Selbstverständlich kann man Monografien zu Spezialthemen gerade auch aus praktischer Sicht für überflüssig halten. Ich bin daher bestrebt, auch hin und wieder praktische Abläufe zu erläutern und in die Bearbeitung einfließen zu lassen. Die Antwort, ob das gelungen ist, kann wohl nur der Leser selbst geben. Es ist also nur ein Angebot (oder für Juristen eher eine Art invitatio ad offerendum) an den Leser.
2. Die Ausgangsposition des Arbeitnehmers
Die damals noch unverbindlichen Gedanken zum Thema Insolvenzgeld und Sanierung fußten allesamt auf einer Entscheidung des BSG.6 Damals waren das noch Überlegungen, die eher intuitiv waren. Praktisch (insbesondere aus eigener Tätigkeit in Insolvenzverfahren) waren es die ersten Telefonate mit verunsicherten Arbeitnehmern, die resignierten Blicke einer Belegschaft und am Ende die Entscheidungen darüber, ob Arbeitnehmer freigestellt bzw. gekündigt werden sollen oder eben nicht, die zeigen, dass (soziale?) Gerechtigkeit sich nicht allein durch Theoretisieren herstellen lässt.7 Der Kontakt mit der Wirklichkeit geht über das Lehrbuch hinaus. Ein Arbeitnehmer ist nie nur eine leistungswirtschaftliche Ressource zur Erbringung von Arbeitsleistung. Er ist auch keine Zahl in der betriebswirtschaftlichen Auswertung. Hinter jedem Arbeitnehmer verbirgt sich ein Einzelschicksal. Die Sorgen der Arbeitnehmer sind vielfältig. Ein finanziertes Eigenheim, Kinder oder auch Ehepartner hängen vom Arbeitsplatz ab. Die Corona-Pandemie hat die Krise der Arbeitnehmer noch verschärft. Das weitere Leben eines Menschen ist oftmals mit der Erhaltung oder Vernichtung seines Arbeitsplatzes untrennbar verwoben. Deshalb sind die Arbeitnehmer im Insolvenzverfahren besonders verunsichert und schutzbedürftig.
3. Methodische Vorüberlegungen
Auch beim Arbeitnehmerschutz gibt es Normen und Rechtsprechungsgrundsätze, die schon immer gelten und praktiziert werden. Der Rechtspositivismus ersetzt in identischen Fällen eine Art permanente naturrechtliche und moralische Abwägung – aber eben nicht in allen. Der Rückzug auf eine bestehende Rechtslage ist allein noch kein Argument. Rechtswissenschaft darf sich nie auf die bloße Analyse von Normen begrenzen. Recht stößt in unzähligen Fällen an Grenzen. Die individuelle Abwägung durch Rechtsprechung und Rechtsfortbildung kann niemals ausschließlich an objektiven oder vermeintlich objektiven Kriterien erfolgen. Bereits die Auslegung normativer Tatbestandsmerkmale erfordert menschliche Wertungen, die über deren offensichtlichen sprachlichen Inhalt weit hinausgehen. Aber auch eine Definition löst oft nicht das eigentliche Wertungsproblem. Neben dem Rechtspositivismus muss es also eine weitere juristische Wertungskategorie geben. Sobald man Recht kritisiert oder moralisiert, verlässt man bereits die positivistische Rechtsbetrachtung.8
Jeder Rechtsanwender geht mit einem durch Sozialisation geprägten Rechtsgefühl oder Vorverständnis an Fälle (egal ob fiktiv oder real) heran.9 Es gibt Anleitungen, die genau dazu raten.10 Das ist hilfreich, um sich nicht im Normengeflecht zu verheddern. Juristen sind eben keine reinen „Subsumtionsautomaten“.11 Insofern kann es auch bei der Auslegung sinnvoll sein, einen Schritt vom Problem zurückzumachen und sich, unabhängig von der bestehenden Norm, zu fragen: Kann das richtig sein? Ist das sinnvoll und interessengerecht? Entspricht die Regelung gesellschaftlichen Werten? Die Antworten auf solche Fragen können nur offen sein. Formelartige Lösungen gibt es nicht. Man könnte darüber wohl umfangreiche und unendliche Diskussionen führen. Aufgabe der Rechtswissenschaften ist es, immer wieder diese Fragen zu stellen. Die Unzufriedenheit und der Zweifel an einem methodisch „richtig“ ermittelten Ergebnis bringen letztlich die Rechtsentwicklung und auch das gesellschaftliche Zusammenleben voran. Dem Selbstverständnis einer „offenen Gesellschaft“ und von Wissenschaftstheorie im Allgemeinen entspringt daher die Erkenntnis, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt.12 Man kann nur einstweilen beste Lösungen von Problemen finden und sie weiter permanenter Kritik aussetzen, bis man eine bessere These gefunden hat.13 Eine ständige Rechtsprechung ist daher kein Ruhekissen; denn auch liebgewonnene Auffassungen (und praktisch funktionierende Lösungen) müssen von Zeit zu Zeit angezweifelt werden.
Was hat das jetzt mit dem Insolvenzgeld zu tun? Auf den ersten Blick gar nichts. Auf den zweiten Blick jedoch ist die obige Überlegung die über die Rechtswissenschaft hinausgehende erkenntnistheoretische Grundlage. Eine umfangreiche Monografie, die insbesondere den Sanierungsaspekt näher beleuchtet, gibt es bislang nicht.14 Warum also nicht versuchen, einem praktisch erprobten Problemfeld, dem Insolvenzgeld und dessen Vorfinanzierung, neue Hypothesen abzuringen? Ziel ist es, nach dem Prinzip des „Trial and error“ und des „probierten Denkens“ mehr oder weniger neue Wege zu finden,15 um das bestehende System des Insolvenzgelds im Hinblick auf die Sanierung und Vorfinanzierung weiter zu verbessern und die Zwecke des Insolvenzverfahrens zu fördern. Das ist die Aufforderung zur „Perspektive legitimer Perspektivenvielfalt“ und Kritik.16 An einigen Stellen werden sich hier daher Ideen oder Andeutungen finden, die nicht bis ins Detail erprobt oder durchdacht sind, sondern zu Kritik geradezu einladen sollen. Unangreifbarkeit war nie mein Anspruch. Die wesentliche Herausforderung der Rechtswissenschaft bleibt, immer wieder nachzufragen, ob das geltende Recht noch den Maßstäben entspricht, die an eine freie, offene und soziale Rechts- und Gesellschaftsordnung zu stellen sind.17 Die wesentliche Ausgangsfrage ist also: Wie können Insolvenzgeld und Vorfinanzierung möglichst gewinnbringend für die Sanierung von Unternehmen eingesetzt werden, ohne dass es dabei zu einer Fehlallokation von Sozialleistungen kommt?