Das Insolvenzgeld als Mittel zur Fortführung und Sanierung von Unternehmen. Nick Marquardt
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3. Die gleichzeitige Entwicklung des Insolvenzrechts
a) Die Anfänge des Insolvenzrechts
Das Insolvenzrecht hat im Laufe der Zeit wie kaum ein anderes Rechtsgebiet tiefgreifende Veränderungen erfahren. Es ist daher weder sinnvoll noch möglich, alle diese Veränderungen bis ins letzte Detail darzustellen. Die Betrachtung soll sich ausschließlich darauf beschränken, einen Vergleich zwischen der insolvenzrechtlichen und der sozialrechtlichen Entwicklung zu ermöglichen. Das gibt dem Leser Gelegenheit, die Normen im Kontext einzuordnen.
Die Geschichte des Insolvenzrechts beginnt bereits im römischen Recht. Dieser Einfluss hat auch in anderen Bereichen das deutsche Zivilrecht maßgeblich mitgeprägt. Im römischen Recht gab es eine Gesamtvollstreckung durch die missio in bona bzw. der missio in possesionem als Regelform der Vollstreckung eines Urteils aus dem Formularprozess gegen den nicht leistenden Schuldner.38 Wörtlich ist damit die Einweisung in das Vermögen bzw. den Besitz gemeint, um sich dann daraus zu befriedigen. Schon zur damaligen Zeit wurde das Vermögen des Betroffenen beschlagnahmt, um anschließend die Gläubiger gleichmäßig befriedigen zu können.39 Dieses Konzept ist bis heute erhalten geblieben und deckt sich mit dem Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter in § 80 Abs. 1 S. 1 InsO. Die Beschlagnahme tritt mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein. Bis in die Gegenwart ist die gleichmäßige Befriedigung der Gläubiger sowie deren Gleichbehandlung ein wichtiger Grundsatz des Insolvenzrechts. Meist entzündet sich ein Streit über diesen Grundsatz unmittelbar an einzelnen Rechtsfragen innerhalb eines Insolvenzverfahrens.40 Das römische Recht sah weder Sanierung noch Restschuldbefreiung vor.41 Zugegeben: Global agierende Konzerne mit tausenden Beschäftigten waren selbst für römische Verhältnisse – Rom war immerhin die erste Millionenmetropole – nicht mal entfernt denkbar. Die Wirtschaft gab das noch nicht her.
Dennoch waren die römischen Verhältnisse im Hinblick auf das Vollstreckungsverfahren eher martialisch. Die Personalexekution erlaubte die Vollstreckung nicht nur in das Vermögen selbst, sondern auch in andere Rechtsgüter.42 Der Schuldner wurde wortwörtlich in Stücke geschnitten und aufgeteilt. Ein Schuldner verlor sogar seine Stellung als Bürger, wenn er seine Verpflichtungen nicht erfüllen konnte.43 Im späteren germanischen Recht – zur Zeit von 500 v. Chr. bis 100 v. Chr. – fanden sich unter anderem Treuegelöbnisse, die eine Schuldknechtschaft vorsahen, falls jemand sein gesamtes Vermögen verloren hatte.44 Der heute bekannte schuldrechtliche Grundsatz des „pacta sunt servanda“, der unser Verständnis des Insolvenzrechts und Vollstreckungsrechts maßgeblich prägte, entwickelte sich aber erst später als Teil des kanonischen Rechts.45
Die Entwicklung des Vollstreckungsrechts im mittelalterlichen Deutschland hingegen war zunächst noch geprägt vom Prioritätsprinzip („Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“). Bereits der Sachsenspiegel und der Schwabenspiegel enthielten Regeln zur Vollstreckung gegen den säumigen Schuldner.46 Eine gemeinsame Befriedigung der Gläubiger fand nicht statt. Erst nach und nach setzte sich – anfänglich noch ausschließlich in den Städten – die Gesamtvollstreckung im Sinne einer gemeinschaftlichen Befriedigung der Gläubiger nach römischem Vorbild durch.47 Innerhalb dieser Phase entwickelten sich vom 15. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert hinein wesentliche Grundzüge des heutigen Insolvenzrechts, die bis heute prägend sind. Das ist natürlich sehr verkürzt und vereinfacht dargestellt, aber die Wiederentdeckung des römischen Rechts beeinflusste das spätere gesamtdeutsche Konkursrecht.48 Diese Entwicklungen gipfelten dann 1877 in der ersten Konkursordnung. Die Schwierigkeit (damals wie heute) bestand in der Verknüpfung von materiellem Recht und Zivilprozessrecht.49 Noch heute zeigt sich dieses Phänomen beispielsweise bei der Prozessaufrechnung.50
b) Von der Konkursordnung zur Insolvenzordnung
Mit der Ausarbeitung des BGB wurde die Konkursordnung in den Folgejahren ebenfalls angepasst. Die neue Konkursordnung trat dann zusammen mit dem BGB am 1. Januar 1900 in Kraft. Sie sah bereits in § 174ff. KO die Möglichkeit eines Zwangsvergleiches vor. Der Zwangsvergleich war aber stets noch Teil des eigentlichen Konkursverfahrens.51 Erstmals entwickelte sich dann 1927 mit der Vergleichsordnung ein System zur Abwendung von reinen Abwicklungsverfahren, das aber noch nicht betriebswirtschaftlich orientiert war.52 Hier beginnt bereits in der Weimarer Zeit die Geschichte der Sanierung und Fortführung von Unternehmen. Durch die deutsche Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich das Recht unterschiedlich weiter. In der BRD wurden gleichzeitig mit der Einführung des Insolvenzgelds im Jahr 1974 Bestrebungen angestellt, den „Konkurs des Konkurses“53 (gemeint sind massearme Verfahren) zu vermeiden.54 Es sollten mehr ausproduzierte und halbfertige Leistungen fertig gestellt werden.55 Massearme Konkurse sollten durch eine dynamische Sequestration vermieden werden.56 In Westdeutschland wurden mit dem Gesetz über den Sozialplan von 1985 weitergehende Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer getroffen.57 Da in der DDR die Planwirtschaft vorherrschend war und alle großen Betriebe verstaatlicht waren, gab es kein Bedürfnis nach einem eigenen Konkurs- oder Insolvenzrecht. Volkseigene Betriebe – so das damalige Selbstverständnis – konnten keine finanziellen Krisen haben. Ähnlich ist es heute nur noch bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts, § 12 InsO, die bislang noch nicht insolvenzfähig sind.
Es gab sowohl das Recht auf als auch die Pflicht zur Arbeit, was die meisten privatautonomen Gestaltungen, die über den Bedarf des täglichen Lebens hinaus gingen, unmöglich gemacht hatte.58 § 42 StGB-DDR sah die Pflicht zur Arbeit vor, indem „asoziales Verhalten“ kriminalisiert wurde. Nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung mit der DDR sah das dann anders aus. Die Volkseigenen Betriebe (VEB) waren den „neuen“ Kräften des Marktes schutzlos ausgeliefert und konnten sich nicht selbstständig am Markt halten. Große Betriebe gerieten am freien Markt in die Krise. Im Gebiet der damaligen DDR galt ab dem 1. Juli 1990 die Gesamtvollstreckungsordnung, um die ehemals verstaatlichten Betriebe abzuwickeln. Diese hatte damals immerhin 23 Paragrafen. Die Regelungsdichte war, für den Umfang, den einige Unternehmen hatten, klein.59 Für die Sanierung großer Unternehmen war die Gesamtvollstreckungsordnung ursprünglich nicht konzipiert. Sie war eine Übergangslösung zur Überführung von Unternehmen in die Marktwirtschaft.
Erst nach der Wiedervereinigung vereinheitlichte man das System von Konkurs, Vergleichsordnung und Gesamtvollstreckungsordnung zu einem einheitlichem Insolvenzrecht. Am 1. Januar 1999 trat damit die Insolvenzordnung nach vierjähriger Wartezeit in Kraft.60 Das Gesetz beendete die „interlokale Rechtsspaltung“.61 Man entwickelte ein gesamtdeutsches Insolvenzrecht. Erstmals kamen im Jahre 1999 Regelungen in die Insolvenzordnung, die mit einigen traditionellen Prinzipien brachen. So ermöglichte das Gesetz erstmals die Restschuldbefreiung. Außerdem stellte der Gesetzgeber in § 1 InsO ausdrücklich klar, dass nunmehr auch der Erhalt eines Unternehmens ein Verfahrensziel sein kann. Dieses Ziel verfolgten die Schuldner bzw. die Geschäftsführer eines Unternehmens aus Eigeninteresse natürlich schon immer. Erstmals etablierte man aber das Insolvenzplanverfahren, um einem Hauptziel der Reform, nämlich der Unternehmenssanierung, gerecht werden zu können. Die Verfahrensziele Liquidation, Sanierung und übertragende Sanierung sah der Gesetzgeber nunmehr als gleichwertig an.62 Schon damals wurde in Frage gestellt, ob diese verbesserten Möglichkeiten in der Praxis als echte Alternative angenommen werden würden.63 Tatsächlich zeigte die weitere Entwicklung auch, dass zwar mit dem Insolvenzplan und der Eigenverwaltung durchaus Instrumentarien geschaffen wurden, um Sanierungen zu erleichtern, aber die praktische Umsetzung eher ernüchternd ausfiel.64
Die Gründe dafür sind vielschichtig, teilweise wurde die Schuld bei den Insolvenzverwaltern gesucht, die nicht bereit waren, über Nacht die Zerschlagungskultur abzulegen.65 Soweit behauptet wird, durch die Zerschlagungskultur sei eine bessere Befriedigung der Gläubiger möglich gewesen, ist diese Erklärung mit Sicherheit zu einfach, zeigt aber, dass es nicht ausreichend ist, theoretische Sanierungsmöglichkeiten zu schaffen.66 Entscheidend ist die praktische Umsetzung im Unternehmen. Vor diesem Hintergrund steuerte der Gesetzgeber nunmehr mit dem ESUG, das am 1. März 2012 in Kraft trat, weiter in Richtung „Sanierungsfreundlichkeit“.