Das Insolvenzgeld als Mittel zur Fortführung und Sanierung von Unternehmen. Nick Marquardt
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Stattdessen soll es zunächst ganz allgemein um die juristische Entwicklung des Insolvenzrechtes und der Vorfinanzierung gehen. Ganz ohne historischen Abriss wird das nicht funktionieren. Schon hier werden sich wesentliche Unterschiede zwischen Insolvenzgeld einerseits und der Sanierungsfunktion der Insolvenzordnung andererseits zeigen. Danach folgt die Darstellung der Regelungen zum Insolvenzgeld und dessen Vorfinanzierung. Hier liegt ein Schwerpunkt, weil die Vorfinanzierung in besonderem Maße Sanierungsrelevanz hat. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale spielen dabei eine wesentliche Rolle. Im weiteren Verlauf werden dann die Besonderheiten der Eigenverwaltung für das Insolvenzgeld und dessen Vorfinanzierung untersucht. Dabei treten praktisch diverse Probleme auf, die zumindest de lege ferenda anders und effektiver gehandhabt werden könnten.
2. Mehrfache Insolvenzereignisse
Ein zweiter Schwerpunkt – und darauf bezogen sich die einleitenden Ausführungen – soll auf der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu mehrfachen Insolvenzereignissen liegen. Dazu ist es sinnvoll, chronologisch vorzugehen, um die Unterschiede im Einzelnen zu untersuchen. Die Rechtsprechung des BSG führt beispielsweise dazu, dass ein bereits eingetretenes Insolvenzereignis weitere „neue“ Insolvenzereignisse, die erneut Insolvenzgeld auslösen könnten, sperrt.25 Ist also ein Insolvenzereignis eingetreten, kann es in sozialrechtlicher Hinsicht nicht oder bzw. nur unter anderen Voraussetzungen nochmal eintreten. Scheitern Sanierungsmaßnahmen, haben die Arbeitnehmer also keinen erneuten Anspruch auf Insolvenzgeld, solange die Sperrwirkung des ersten Ereignisses fortdauert. Das kann unter anderem bei zwischenzeitlichen Neueinstellungen oder Entlassungen in der Sanierungsphase zu rechtlich interessanten Folgefragen führen. Hier wird auch dem Problem nachgegangen, warum und aus welchen Gründen das BSG in ständiger Rechtsprechung an dieser Sperrwirkung festhält und, ob das überhaupt sinnvoll ist. Auch diese Fragen können nur vor dem Hintergrund der Entwicklung des Insolvenzrechtes von einem reinen Abwicklungsverfahren hin zu einem Sanierungs- und Entschuldungsverfahren untersucht werden. Es wird ebenfalls darum gehen, welche Schnittstellen zum Arbeits- und Sozialrecht bestehen und wie sich diese auf die Auslegung auswirken können.
Letztlich werde ich versuchen, auf dieser Grundlage einen Gegenentwurf zu dieser recht restriktiven Rechtsprechung des BSG zur Diskussion zu stellen. Die Kritik an einer so speziellen und detaillierten Rechtsfrage setzt aber auch voraus, dass zunächst die sozialrechtlichen und normtheoretischen Grundlagen betrachtet werden. Das gilt auch für die insolvenzrechtlichen Abläufe einer Sanierung, die durch die Insolvenzordnung vorgegeben werden. Auf welche Art das BSG die Problematik mehrfacher Insolvenzereignisse löst und wie sich vor allem die Sperrwirkung des ersten Insolvenzereignisses auswirkt, soll näher betrachtet werden. Dabei soll der Rechtsprechung des BSG ein eigenes Gesamtkonzept gegenübergestellt werden, welches die unterschiedlichen Anforderungen in anderer Art und Weise vereint. Es schließt sich sodann eine Diskussion über die Missbrauchsmöglichkeiten, Grenzen und Risiken des Insolvenzgelds und der Vorfinanzierung an. Zuletzt wird betrachtet, ob und wenn ja, wie Insolvenzverwalter, vorläufiger Insolvenzverwalter und Sachwalter haften, falls eine Vorfinanzierung scheitert oder gar nicht durchgeführt wird. Dabei sind weitere Kriterien heranzuziehen als bei der allgemeinen Haftungsprüfung, da das Insolvenzgeld als sozialrechtliche Spezialmaterie eben auch andere Haftungsrisiken birgt.
24 Vgl. die sehr gute alphabetische Übersicht bei Brand/Kühl, § 165 SGB III Rn. 40; Vgl. auch Schelp, NZA 2010 S. 1095–1101. 25 Ständige Rechtsprechung seit BSG ZIP 1999, 762–765; zuletzt BSG ZInsO 2017, 2183–2188.
I. Historischer Kontext
1. Sinn und Unsinn einer historischen Darstellung
Die historische Auslegung steht nicht isoliert neben anderen Auslegungsmethoden, sondern ergänzt und stützt sie.26 Wie einzelne Buchstaben erst zusammen ein Wort ergeben und erst das Zusammenspiel von Prädikat und Subjekt einen Satz ergibt, so lassen sich Gesetze erst verstehen, wenn man neben Wortlaut, Systematik und Telos den Kontext ihrer Entstehung nachvollzieht. Es geht dabei weniger um „neue“ historische Erkenntnisse, als vielmehr um die Einordnung der Norm in einen Zeitkontext. Ein umfangreicher historischer Exkurs ist nur dann sinnvoll, wenn damit tatsächlich ein Mehrwert für die Auslegung und die Lösung eines rechtlichen Problems verbunden ist. Es muss sich um Informationen handeln, die zum Verständnis einer Norm unabdingbar sind. Unbestritten kann die Betrachtung der Geschichte das Verständnis schärfen. Manchmal ist die historische Auslegung sogar der einzige Zugang zum Verständnis einer Norm. Sie sollte aber kein seitenfüllender Selbstzweck sein. Die Geschichte kann nur Ausgangspunkt, aber nicht Ziel einer methodischen Annäherung an den objektiv gültigen Sinn eines Rechtssatzes sein.27 Andererseits ist zu beachten, dass der Wille des historischen Gesetzgebers sich meist abschließend im Normtext manifestiert hat.28 Es folgt somit nur ein kurzer Abriss einiger wesentlicher historischer Schritte. Diese sind Grundlage für den Zugang zum Sozialrecht allgemein und speziell zum Insolvenzgeld. Am Ende dieses Exkurses werden einige Erkenntnisse stehen, die auch für die zukünftige Ausrichtung des Insolvenzgelds interessant sind.
2. Vom Konkursausfallgeld zum heutigen Insolvenzgeld
Die Regelung, damals noch in §§ 141a bis 141n AFG normiert, begründete erstmals den sozialversicherungsrechtlichen Schutz der Arbeitnehmer für den Fall der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers. Grundlage war das 3. AFG-ÄndG vom 17. Juli 1974.29 § 141b AFG regelte dabei die Insolvenzereignisse (Eröffnung des Konkursverfahrens, Abweisung mangels Masse, Beendigung der Betriebstätigkeit), während § 141a AFG Konkursausfallgeld folgendermaßen legaldefinierte: „Arbeitnehmer haben bei Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers nach diesem Unterabschnitt Anspruch auf Ausgleich ihres ausgefallenen Arbeitsentgeltes (Konkursausfallgeld).“30
Die Einführung wurde kurze Zeit später im Jahre 1980 durch die Richtlinie des Rates der EWG 80/987 vom 20. Oktober 1980 überholt. Damit wurden alle Mitgliedstaaten der damaligen EWG durch die Richtlinie europarechtlich verpflichtet, entsprechende Garantieeinrichtungen zu schaffen. Diese sollten sicherstellen, dass Arbeitnehmer auch in der Insolvenz ihre Arbeitsleistung zumindest teilweise vergütet bekommen.31 Eine konkrete Höhe gab die Richtlinie nicht vor. Träger der deutschen Garantieeinrichtung ist die Bundesagentur für Arbeit, die – so jedenfalls die damalige Überlegung des Gesetzgebers – aufgrund der weit verzweigten Einrichtungen am besten in der Lage sei, eine zeitnahe Prüfung und Auszahlung zu gewährleisten.32 Die 1974 eingeführten Normen galten im Wesentlichen inhaltlich unverändert bis zum 1. Januar 1999 fort.33 Als die Insolvenzordnung die Konkursordnung abgelöst hatte, wurden die Vorschriften in die §§ 183 bis 189 a SGB III implementiert. Dabei blieb der wesentliche Kernbereich der Regelungen erneut unangetastet.34 Mit dem Job-AQTIV-Gesetz vom 10. Dezember 2001 wurden die Normen dann hauptsächlich im Hinblick auf grenzüberschreitende Sachverhalte in § 183 Abs. 1 S. 1 und Abs. 1 S. 2 angepasst.35 Zudem wurden in S. 3 und 4 Vorschriften eingefügt, die spezielle Regelungen zum Arbeitszeitguthaben trafen. Auch hierbei blieben umfangreiche Reformen am Regelungskonzept und am Prinzip des Insolvenzgelds aus. Letztlich führte das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20. Dezember 2011 zu einer neuen Systematisierung des SGB III, sodass nunmehr die Regelungen zum Insolvenzgeld von den §§ 183ff. SGB III a.F. in die §§ 165ff. SGB III überführt wurden.36 Inhaltliche Änderungen waren damit,