Kirchliches Arbeitsrecht in Europa. Florian Scholz
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(3) Sanktionierung bei Verstoß gegen eine Loyalitätsobliegenheit
Verletzt ein kirchlicher Arbeitnehmer eine ihm auferlegte Loyalitätsobliegenheit – etwa durch Kirchenaustritt oder Wiederheirat nach Scheidung – hat sich die Wirksamkeit einer deswegen erfolgenden Kündigung am staatlichen Kündigungsrecht zu messen. Denn der dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht zugrunde liegende Vorbehalt des „für alle geltenden Gesetzes“ umfasst auch die kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften der § 1 KSchG, § 626 BGB.539 Darin kommt das verfassungsrechtlich begründete Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) als wesentliches Prinzip der Rechtsordnung zum Ausdruck. Ein Sonderkündigungsrecht zugunsten der Kirchen besteht infolgedessen nicht.
Die soziale Rechtfertigung der Kündigung eines kirchlichen Arbeitnehmers erfordert damit nach den allgemeinen Grundsätzen einen (ggf. wichtigen) Kündigungsgrund sowie eine Interessenabwägung. Daraus folgt nach der expliziten Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts eine zweistufige Prüfung, bei der auf beiden Ebenen der organische Zusammenhang von Statusrecht (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV) und Grundrecht (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) der Kirchen Berücksichtigung zu finden hat.540 Die Vorgehensweise im Rahmen der ersten Prüfungsstufe zum Vorliegen eines Kündigungsgrundes entspricht der vorangegangen Darstellung zur Feststellung von Loyalitätsobliegenheiten und deren Verletzung. Hier gebietet das kirchliche Selbstbestimmungsrecht die ausschließliche Zugrundelegung des kirchlichen glaubensdefinierten Selbstverständnisses bezüglich der Beurteilung, ob ein Verstoß gegen die Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre gegeben ist und welches Gewicht diesem zukommt.541 An diese kirchlichen Vorgaben ist der staatliche Richter gebunden; ihm verbleibt lediglich eine Plausibilitätskontrolle, sowie eine Prüfung, ob auf dieser Basis die Grundprinzipien der Rechtsordnung gewahrt sind.
Auf der zweiten Prüfungsstufe muss das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen den Grundrechten und Interessen des gekündigten Arbeitnehmers in einer „offenen Gesamtabwägung“ gegenübergestellt werden.542 Erst in diesem Zusammenhang wird die eigentliche richterliche Prüfung der Wirksamkeit der auf der Obliegenheitsverletzung aufbauenden Sanktion vorgenommen. In diese Abwägung bezieht das Bundesverfassungsgericht nunmehr auch mit ein, ob sich der gekündigte Arbeitnehmer der Auferlegung der Loyalitätsanforderungen und der entsprechenden Sanktionen bei ihrer Missachtung zumindest hätte bewusst sein können, da nur auf diese Weise eine Selbstbindung mit der Folge eines partiellen Verlusts von Freiheitsrechten eintreten könne.543 Damit erfolgt im Ergebnis eine Einbeziehungskontrolle im Sinne des § 305 Abs. 2 BGB. Dies berücksichtigt das verfassungsrechtliche Prinzip der Privatautonomie zugunsten des gekündigten Arbeitnehmers, da die besonderen Obliegenheiten konsensual in das Vertragsverhältnis aufgenommen sein müssen, damit ihre Verletzung sanktioniert werden darf. Dogmatisch überzeugender wäre die Prüfung dieses Aspekts im Rahmen der ersten Prüfungsstufe, da eine oktroyierte Auferlegung von Loyalitätsanforderungen bereits dort zu deren Unwirksamkeit führte – schließlich würde der darin liegende Verstoß gegen das Vertragsprinzip auch ein Grundprinzip der Rechtsordnung verletzen.
Danach nimmt das Bundesverfassungsgericht eine Güterabwägung im engeren Sinne vor.544 Der dem Kündigungsschutzrecht innewohnende Grundsatz der Interessenabwägung aus § 1 KSchG und § 626 BGB als Ausprägung des Bestandsschutzprinzips entfaltet damit als „für alle geltendes Gesetz“ auch Wirkung für die Kirchen. Zwar ist auch in diesem Zusammenhang das Selbstverständnis der Kirchen bezüglich der Schwere des Verstoßes maßgeblich; wie auch im Rahmen des ersten Prüfungsschritts ist es einem staatlichen Richter diesbezüglich untersagt, seine eigene Einschätzung an die Stelle der kirchlichen zu setzen. Doch das Kündigungsrecht ist von dem Grundsatz beherrscht, dass eine noch so schwere Pflichtverletzung des Arbeitnehmers nicht zu einem Kündigungsautomatismus führen darf. Absolute Kündigungsgründe sind innerhalb des Arbeitsrechts systemwidrig.545
Damit findet sich auch in den gesetzlichen Vorschriften des Kündigungsschutzes derjenige Mechanismus wieder, mit dem die Kollision zwischen kirchlichem Selbstbestimmungsrecht und dessen Schrankenvorbehalt des „für alle geltenden Gesetzes“ nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts546 aufzulösen ist. Es kommt damit zu einem Gleichlauf des Prüfungsprogramms, der in einer dualistischen – zugleich privat- und verfassungsrechtlich geprägten – Abwägung kulminiert: Die kollidierenden Rechtspositionen in Gestalt der kirchlichen Selbstbestimmung einerseits und der Arbeitnehmerrechte andererseits sind im Wege einer praktischen Konkordanz miteinander in Einklang zu bringen.547 Auch in diesem Zusammenhang ist dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und deren Selbstverständnis wegen der vorbehaltlosen Gewährleistung der Religionsfreiheit in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ein besonders hohes Gewicht beizumessen.548 Wegen des Verbots der absoluten Kündigungsgründe darf diese Interessensprivilegierung aber nicht zu einer Bedeutungslosigkeit der Arbeitnehmerrechte führen.549
Gleichwohl evoziert diese Privilegierung eine Weichenstellung, die zu einer erheblichen Stärkung der Rechtsposition der Kirchen führt. Es bedarf damit äußerst gewichtiger Argumente des Arbeitnehmers, um zu erreichen, dass das Gericht die Unwirksamkeit der Kündigung feststellt.550 Dafür können von seiner Seite die üblichen Kriterien wie eine lange Beschäftigungsdauer und ein hohes Lebensalter,551 aber auch seine durch die auferlegten Loyalitätsobliegenheiten konkret beeinträchtigten Grundrechte angeführt werden.552 Diese fließen im Wege der mittelbaren Drittwirkung in die Interessenabwägung der § 1 KSchG und § 626 BGB ein. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass die Eröffnung des Schutzbereichs eines betroffenen Arbeitnehmergrundrechts an sich für die Abwägung bedeutungslos ist, wenn es sich um ein Grundrecht handelt, das bei der Sanktionierung einer bestimmten Obliegenheitsverletzung immer tangiert ist.553 Erforderlich ist somit eine aus dem Einzelfall resultierende singuläre Konstellation, durch die die Rechtsposition des Arbeitnehmers intensiviert wird, damit die durch das Selbstbestimmungsrecht geschützte Loyalitätsobliegenheit nicht entwertet wird.
b) Einwirkungen des europäischen Rechts
Die vorangehend dargestellten, aus dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht folgenden Grundsätze werden zunehmend durch die Einwirkungen europäischer Rechtsquellen und Rechtssetzung überschattet, teilweise gar infrage gestellt. Bedeutsam ist dabei einerseits die Berücksichtigung der aus der EMRK folgenden Grundrechte kirchlicher Arbeitnehmer und die dazu ergangene Rechtsprechung des EGMR (aa)). Noch größere Relevanz hat die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG und die Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung der darin enthaltenen kirchenspezifischen Privilegierung (bb)).
aa) Konflikt mit der EMRK? Die kirchenarbeitsrechtliche Rechtsprechung des EGMR
(1) Die Rechtssachen „Schüth“, „Obst“ und „Siebenhaar“
Der EGMR hatte sich in den Rechtssachen Schüth554, Obst555 und Siebenhaar556 im Kontext der Kündigung kirchlicher Arbeitnehmer aufgrund eines Loyalitätsobliegenheitsverstoßes mit den Spezifika des deutschen kirchlichen Arbeitsrechts zu beschäftigten. Die klagenden Arbeitnehmer rügten, dass die deutschen Arbeitsgerichte ihre durch die EMRK verbürgten Grundrechte – namentlich die Achtung der Privatsphäre nach Art. 8 EMRK und die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK –557 verletzt hätten. Der EGMR war somit dazu berufen, diese Grundrechtsgewährleistungen mit dem Recht der Kirchen auf korporative Religionsfreiheit