Kirchliches Arbeitsrecht in Europa. Florian Scholz
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cc) Synthese: Staatliches Recht modifiziert nach kirchlichem Selbstverständnis
Auf dieser Grundlage ist es den Kirchen kraft ihres Selbstbestimmungsrechts auch unter Rückgriff auf die Privatautonomie ermöglicht, die „religiöse Dimension“ ihres Wirkens im Sinne ihres Selbstverständnisses durch entsprechende Gestaltung ihrer Arbeitsverhältnisse sicherzustellen.471 Daraus folgt aber kein originäres kirchliches Arbeitsrecht, das von der staatlichen Rechtsordnung unabhängig ist.472 Vielmehr ist die Reichweite etwaiger Exemtionen und Modifikationen für jeden einzelnen Teilbereich des staatlichen Arbeitsrechts am Maßstab der verfassungsrechtlichen Grundlagen zu bestimmen. Zwar finden sich teilweise bereits auf Gesetzesebene verfassungsrechtlich gebotene Bereichsausnahmen zugunsten der Kirchen, wie etwa innerhalb der Mitbestimmungsordnungen oder in § 9 AGG. Doch in allen anderen Fällen ist die Möglichkeit einer Abweichung vom allgemeinen Arbeitsrecht an dem einschlägigen Schrankenvorbehalt des „für alle geltenden Gesetzes“ zu messen.473 Dann stellt sich die Frage, ob eine bestimmte arbeitsrechtliche Regelung als ein solches Gesetz zu qualifizieren ist. Dabei ist die Bedeutung jener Norm für den sozialen Rechtsstaat unter Berücksichtigung der Arbeitnehmerrechte dem Erfordernis einer Abweichung von dieser aus Sicht des kirchlichen Selbstverständnisses gegenüberzustellen. Inwieweit innerhalb dieses Abwägungsvorgangs staatliches Arbeitsrecht durch die Kirchen zu einem kirchlichen Arbeitsrecht modifiziert werden kann, stellt sich – mit v. Campenhausen gesprochen – als eine diffizile Bereichsabgrenzung von staatlichem und kirchlichem Recht dar.474
c) Geltungsbereich des kirchlichen Arbeitsrechts
Eine abstrakte, einfachgesetzliche Abgrenzungsnorm zwischen dem Anwendungsbereich weltlichen und kirchlichen Arbeitsrechts existiert nicht. Nur in den Regelungen zur Reichweite der Mitbestimmungsordnungen (§ 118 Abs. 2 BetrVG, § 112 BPersVG) hat der Gesetzgeber die Trennlinie normativ gezogen. Dabei musste er sich an den verfassungsrechtlichen Anforderungen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts orientieren.475 Denn die Reichweite dessen Schutzbereichs bestimmt zugleich die Reichweite der Möglichkeit einer Modifikation des weltlichen Arbeitsrechts im kirchlichen Bereich. Jene Regelungen können daher als pars pro toto476 für die Distinktion zwischen kirchlichem und weltlichem Arbeitsrecht insgesamt herangezogen werden.477
d) Die kircheneigenen Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts
Zur Etablierung einer einheitlichen Rechtsgrundlage für den kirchlichen Dienst sind sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche der häufig geäußerten Aufforderung478 nachgekommen, arbeitsrechtliche Regelungswerke zu erlassen. Damit füllen sie die ihnen durch das verfassungsrechtlich gewährleistete Selbstbestimmungsrecht zuerkannten Freiheiten auf dem Gebiet des Arbeitsrechts aus. Die Regelungen intendieren eine homogene Ausgestaltung des kirchlichen Selbstverständnisses anhand des Leitbilds der Dienstgemeinschaft.479 Als Kirchenrecht können die Regelungen allerdings grundsätzlich nicht unmittelbar Geltung für die kirchlichen Arbeitsverhältnisse entfalten; eine arbeitsvertragliche Bezugnahme ist daher erforderlich.480
aa) Katholische Kirche
Erstmalig erließ die Deutsche Bischofskonferenz eine rechtsverbindliche Regelung für den Dienst der katholischen Kirche am 22. September 1993.481 Seitdem besteht eine „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ (GrOkathK), zuletzt novelliert am 27. April 2015 durch die Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands.482 Sie bildet ein umfassendes Regelungswerk für das kirchliche Arbeitsrecht: Art. 3 bis 5 GrOkathK treffen die Grundentscheidungen auf dem Gebiet des Individualarbeitsrechts; Art. 6 und 7 GrOkathK regeln Fragen zur gewerkschaftlichen Betätigung und den sogenannten „Dritten Weg“. Art. 8 GrOkathK legt die Grundlage für die kircheneigene Mitarbeitervertretungsordnung MAVO und Art. 10 Abs. 2 GrOkathK gewährleistet kircheneigenen gerichtlichen Rechtsschutz.
Die Grundordnung ist Kirchenrecht und von den Bischöfen aufgrund ihrer Gesetzgebungsbefugnis nach can. 391 CIC für ihre jeweilige Diözese erlassen.483 Sie gilt nach der (deklaratorischen) Regelung des Art. 2 Abs. 1 GrOkathK für die darin bezeichneten Rechtsträger, die der Gesetzgebungsgewalt des Bischofs unterliegen. Nach Art. 2 Abs. 2 GrOkathK werden aber auch diejenigen kirchlichen Rechtsträger, die dessen Gesetzgebungsgewalt nicht unterworfen sind, verpflichtet, die Grundordnung in ihren Statuten zu übernehmen.484 Diese Regelung trägt dem Umstand Rechnung, dass die bischöfliche Gesetzgebungsgewalt nicht den gesamten Anwendungsbereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts umfasst.485 Die Arbeitsverträge katholischer Rechtsträger enthalten eine dynamische Bezugnahmeklausel auf die Grundordnung.486
bb) Evangelische Kirche
Für die evangelische Kirche besteht eine der katholischen Grundordnung vergleichbare einheitliche Regelung für das gesamte kirchliche Arbeitsrecht nicht. Maßgeblich sind vielmehr verschiedene Rechtsquellen. Für den Bereich des Individualarbeitsrechts hat der Rat der evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) am 9. Dezember 2016 die Richtlinie „über kirchliche Anforderungen der beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie“ auf Grundlage487 des Art. 9 b) Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (GO-EKD) erlassen (Loyalitätsrichtlinie).488 Auf dem Gebiet des Kollektivarbeitsrechts wurden das Mitarbeitervertretungsgesetz (MVG-EKD)489 vom 12. November 2013 und das Arbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetz (ARGG-EKD)490 vom 13. November 2013 erlassen.
2. Individualarbeitsrecht
Das kirchliche Individualarbeitsrecht weist insbesondere in Bezug auf die Personalauswahl, bei der Festlegung spezifischer Loyalitätsobliegenheiten und – damit verknüpft – innerhalb des Kündigungsrechts Besonderheiten auf. Die damit verbundenen Rechtsfragen werden in den nachfolgenden Darstellungen erörtert. Dabei ist vorauszuschicken, dass sich das Meinungsbild in diesem Bereich nach einer wegweisenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1985 zunächst gefestigt hatte. Nach der Jahrtausendwende flammte die rechtswissenschaftliche Debatte – maßgeblich bedingt durch europarechtliche Vorgaben in Gestalt der Antidiskriminierungs-Richtlinie 2000/78/EG und durch Rechtsprechung des EGMR zum deutschen kirchlichen Arbeitsrecht – wieder auf. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2014 bestätigte das Bundesverfassungsgericht zwar seine knapp dreißig Jahre zuvor ergangene Entscheidung, doch war die damit herbeigeführte Rechtssicherheit äußerst kurzlebig. Initiiert durch zwei vom BAG eingeleitete Vorabentscheidungsverfahren hat der EuGH in jüngerer Vergangenheit zwei Urteile erlassen, die mit den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätzen brechen. Wie das Bundesverfassungsgericht darauf reagieren wird, ist noch ungewiss.
Dieser kurze chronologische Abriss macht bereits deutlich, dass das gegenwärtige deutsche kirchliche Individualarbeitsrecht maßgeblich durch einen Konflikt zwischen nationalem Verfassungsrecht und Europarecht geprägt ist. Nachfolgend soll daher zunächst der vom kirchlichen Selbstbestimmungsrecht vermittelte Schutz dargestellt werden, wie er insbesondere durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Auferlegung von Loyalitätsobliegenheiten und bei einer arbeitgeberseitigen Sanktionierung als Reaktion auf deren Verletzung konkretisiert wurde (a). Dem