Gesellschaftsrecht II. Recht der Kapitalgesellschaften. Ulrich Wackerbarth
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Teil 3 Gläubigerschutz › § 6 Bilanz- und Insolvenzrecht › VII. Der hier vertretene Standpunkt
1. Fortführungsprinzip und Vorsichtsprinzip als Gefahren für die Gläubiger
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Das deutsche Bilanzrecht tendiert zu einer von Liquidationswerten abweichenden Bewertung der Aktiva und Passiva der Gesellschaft. Dass die durch die Prämisse des going concern (oben Rn. 253) ermöglichten Fortführungswerte und damit eine Überbewertung des Vermögens dem Gläubigerschutz zuwiderläuft, sollte sofort einleuchten: In Wahrheit ist weniger da, als in der Bilanz angegeben ist.
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Aber auch das Vorsichtsprinzip (oben Rn. 254) führt zur Gläubigergefährdung, weil es hilft, im Wege stiller Reserven die wahre Vermögensentwicklung der Gesellschaft zu verstecken. Zwar mag zunächst tatsächlich ein größeres Vermögen vorhanden sein, als in der Bilanz angegeben (damit lassen sich z.B. Steuern sparen). Jedoch kann infolgedessen erstens nicht ermittelt werden, ob sich die Gesellschafter durch ein unausgewogenes Geschäft (verdeckte Gewinnausschüttung) verdeckt Geld aus der Kasse genommen haben.
Beispiel:
Eine Immobilie ist 200 wert, steht aber nur mit 100 in der Bilanz. Gesellschafter und Gesellschaft veräußern die Immobile nun zum Buchwert (100) an den Gesellschafter. In der Bilanz scheint alles seine Richtigkeit zu haben (Aktiventausch). Tatsächlich aber ist eine Zuwendung in Höhe von 100 an den Gesellschafter erfolgt.
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Stille Reserven verschleiern und erleichtern also zum ersten verdeckte Gewinnausschüttungen und erschweren es später dem Insolvenzverwalter, Verstöße gegen die Kapitalerhaltung festzustellen. Zweitens sinkt durch eine solche verdeckte oder „stille“ Auflösung der stillen Reserven das Vermögen der Kapitalgesellschaft, ohne dass dies in der Bilanz publik wird. Die Gläubiger erhalten also keine Warnsignale, dass es der Gesellschaft in Wahrheit bereits schlechter geht, als aus der Bilanz ersichtlich.
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Ziel der Handelsbilanz müsste es daher eigentlich sein, den Zeitpunkt Z2 zu ermitteln. Sie müsste auf die Zeitwerte der Vermögensgegenstände abstellen. Damit sind das heutige Verständnis des Vorsichtsprinzips (v.a. das Anschaffungswertprinzip) und der Grundsatz des going concern (Fortführungswerte) jedoch nicht vereinbar.
a) Überschuldung nach Überschuldungsbilanz
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Dieser Zeitpunkt wäre übertrieben früh. Eine gewisse Externalisierung von unternehmerischen Risiken auf die Gläubiger ist Zeichen jeder Kapitalgesellschaft. Es wäre zu scharf und würde auch funktionsfähige Unternehmen in den Ruin treiben, wenn man als maßgebende Bilanz eine Überschuldungsbilanz verlangte, die sämtliche denkbaren Abwicklungsverluste in die Betrachtung mit einbezieht und die von einer schnellen Zerschlagung des Unternehmens ausgeht. Dabei ist dieses Argument mit besonderer Vorsicht zu genießen. Es trägt nämlich nur so weit, wie in einer Überschuldungsbilanz auch echte Werte unberücksichtigt blieben, die letztlich nur infolge der Verfahrensbesonderheiten und dem Zeitdruck in der Insolvenz zerstört werden. Ansonsten kann und wird das Argument auch dazu missbraucht werden, den Zeitpunkt der Insolvenzantragsstellung ungebührlich nach hinten zu verlagern.
b) Überschuldung nach Fortführungswerten
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Bei einer positiven Fortführungsprognose (und das sagte scheinbar das Gesetz bis Oktober 2008) müsste erst im Jahr 5 der Insolvenzantrag gestellt werden, wenn auch unter Zugrundelegung von Fortführungswerten die Überschuldung anzunehmen wäre. Doch können Gesellschafter und Geschäftsführer auf volkswirtschaftlich schädliche Gedanken kommen, wenn nicht die auf dem Markt erzielbaren Werte, sondern letztlich unrealistisch hohe Werte über die Frage der Überschuldung entscheiden. Die Gesellschafter/Geschäftsführer werden nämlich bereits ab dem Jahr 4 (da sie selbst ja die „wahre Vermögenslage“ der Gesellschaft genau kennen) versucht sein, besonders spekulative und riskante Geschäfte einzugehen, um das Unternehmen noch zu retten. Wenn im Zeitpunkt Z1 die Gesellschafter die Liquidation ihrer Gesellschaft beschließen würden, dann bekämen sie noch insgesamt etwas raus (vgl. die Abb.): Im Zeitpunkt Z1 würden bei einer gedachten Liquidation die Gläubiger vollständig befriedigt werden und übrig blieben noch 35 T€. Dieses Geld können die Gesellschafter also auch jetzt noch verlieren, wenn sie in diesem Zeitpunkt ungebührlich hohe Risiken eingehen. Sie werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach im Zeitpunkt Z1 also sehr vernünftig verhalten.
c) Überschuldung nach Liquidationswerten
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Anders dagegen sieht es im Zeitpunkt Z2 (Jahr 4) aus. Würden die Gesellschafter nunmehr die Liquidation ihrer Gesellschaft beschließen, dann werden sie kein Geld mehr erhalten. Also wirtschaften sie ab diesem Zeitpunkt allein mit dem Geld ihrer Gläubiger.
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Es liegt nahe, dass die Gesellschafter einer GmbH diese Liquidationsbilanz kennen, auch wenn sie sie nach dem Gesetz nicht aufzustellen verpflichtet sind. Man stelle sich folgende Fragen: Würde man als Gesellschafter/Geschäftsführer einer GmbH solche Überlegungen anstellen, oder liegt das alles hier besonders fern? Wie hoch wird die Insolvenzquote für die Gläubiger im Zeitpunkt Z3 sein? Wie werden sich die Werte nach Liquidationsbilanz und Überschuldungsbilanz bis zum Zeitpunkt Z3 fortentwickeln?
d) Widerlegung des Hauptgegenarguments
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Das immer wieder geäußerte Hauptargument gegen den hier für richtig gehaltenen Zeitpunkt Z2 als Zeitpunkt für die Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags lautet wie folgt: Stellte man auf Liquidationswerte ab, dann würde man viele lebensfähige Unternehmen in den Konkurs treiben: Wenn man dagegen so wie hier vorgeschlagen bilanzierte, dann wären 80 % der deutschen Unternehmen überschuldet.
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