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Besonderes Verwaltungsrecht - Группа авторов C.F. Müller Lehr- und Handbuch

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die vorgegebene Grundstückssituation nachhaltig verändern und dadurch den Nachbarn schwer und unerträglich treffen“[832]. Mit der von der Nassauskiesungsentscheidung des BVerfG beförderten Einsicht[833], dass Art. 14 GG als normgeprägtes Grundrecht keinen jenseits des einfachen Rechts liegenden Nachbarschutz (oder Bestandsschutz) kennen kann, musste sich freilich auch die bundesverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung ändern. Einen unmittelbaren Abwehranspruch des Nachbarn, hergeleitet aus Art. 14 GG, lehnt das BVerwG nunmehr zu Recht ausdrücklich ab[834]. Daraus ergibt sich auch keine Lücke für den Nachbarschutz: Zum einen war der auf Art. 14 GG gestützte Abwehranspruch in der Praxis ohnehin weitgehend bedeutungslos[835]. Zum anderen füllt das an bauplanungsrechtlichen Normen festgemachte Gebot der Rücksichtnahme die Lücke[836].

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      Selten hat die Rechtsprechung für einen nachbarlichen Abwehranspruch auch auf andere Grundrechte zurückgegriffen oder zumindest eine solche grundrechtliche Konstruktion ventiliert, insbesondere über Art. 2 Abs. 2 S. 1[837], Art. 5 Abs. 3 S. 1[838] und Art. 4 GG[839]. Dabei besteht der Vorzug des Abwehranspruchs aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch darin, dass sich – anders als bei den einfachrechtlichen Normen des Bauordnungsrechts – sogar die ‚bloß‘ obligatorisch Berechtigten auf ihn berufen können[840]. Insgesamt erscheint diese Dogmatik als nicht unbedenklich. Zwar treffen bei den genannten Grundrechten nicht dieselben Bedenken zu wie bei Art. 14 GG[841], weil es sich bei ihnen gerade nicht um normgeprägte Grundrechtsverbürgungen handelt. Das Problem besteht vielmehr darin, dass über einen unmittelbaren Rückgriff auf die Grundrechte die einfachgesetzlichen Normierungen unterlaufen werden[842].

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      Neben dem Versuch, den einfachrechtlichen Nachbarschutz über Grundrechte zu ergänzen, gab es immer wieder auch Überlegungen, den bauordnungsrechtlichen Nachbarschutz über das Rücksichtnahmegebot zu erweitern[843]. Die Rechtsprechung hat diesen Versuchen häufig (aber nicht durchgehend) eine Absage erteilt[844]: „Das Rücksichtnahmegebot ist [. . .] keine allgemeine Billigkeitsregel, um die grundsätzlich hinzunehmende gesetzgeberische Wertentscheidung nach Angemessenheitskriterien bei Bedarf zu korrigieren“[845]. Andernfalls bestünde – wie bei einem direkten Durchgriff auf die Grundrechte – die Gefahr, dass das einfache Bauordnungsrecht überspielt würde. Auch ist das Rücksichtnahmegebot primär Teil des Bauplanungsrechts[846], wurde das Gebot doch im Hinblick auf Nutzungskonflikte konzipiert, die durch das Nebeneinander von verschiedenen Gebietsarten leicht auftreten können[847].

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      § 43 Abs. 1 S. 1 der jeweiligen Landesverwaltungsverfahrensgesetze[848] macht die Wirksamkeit eines Verwaltungsakts von dessen Bekanntgabe abhängig. Die Anforderung der individuellen Bekanntgabe an Adressaten und Betroffene hat zur Konsequenz, dass bei mehreren involvierten Personen – etwa dem Bauherrn als Adressaten einer Baugenehmigung und dem Nachbarn als Betroffenen – die Wirksamkeit des Verwaltungsakts gegenüber den Genannten zeitlich auseinanderfallen kann; möglich ist auch, dass einem Betroffenen gegenüber der Verwaltungsakt überhaupt nicht wirksam wird[849]. In Nachbarrechtsstreitigkeiten kann die zeitliche Divergenz dazu führen, dass dem Nachbarn wegen späterer Bekanntgabe im Sinne von § 41 LVwVfG[850] noch immer eine Widerspruchs- und Anfechtungsmöglichkeit zusteht, obwohl die Baugenehmigung dem Bauherrn gegenüber schon bestandskräftig geworden ist und der Nachbar faktisch schon lange Kenntnis von der Baugenehmigung hatte oder hätte haben müssen[851]: Die Bekanntgabe der Baugenehmigung an den Bauherrn setzt eben nicht automatisch die Rechtsbehelfsfristen für den Nachbarn in Gang, weil der Fristbeginn aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit an die individuelle Bekanntgabe gekoppelt ist (§§ 70 Abs. 1 S. 1, 74 Abs. 1 S. 2 VwGO)[852]. Das Problem wird weiter verschärft durch die Einführung der fingierten Baugenehmigung, die manche Bauordnungen für das vereinfachte Genehmigungsverfahren vorsehen[853]. Eine solche fingierte Baugenehmigung aber wird dem Nachbarn regelmäßig nicht förmlich bekannt gemacht[854].

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      Hat der Nachbar auch ohne amtliche Bekanntmachung von der Baugenehmigung Kenntnis erlangt (oder hätte er sie erlangen müssen), scheidet zwar eine analoge Anwendung der Rechtsbehelfsfristen mangels Vergleichbarkeit und Regelungslücke aus. Die Rechtsprechung gelangt indes über die Konstruktion eines „nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses“, das nach Treu und Glauben besondere Rücksichten der Nachbarn untereinander erfordere, zu ähnlichen Ergebnissen: Der Nachbar muss sich bei zuverlässiger Kenntniserlangung, aber auch bei grob fahrlässiger Unkenntnis der Baugenehmigung so behandeln lassen, als sei ihm die Baugenehmigung amtlich bekannt gegeben worden, um den Schaden des Bauherrn möglichst zu vermeiden oder jedenfalls gering zu halten[855]. Weil es in diesen Konstellationen freilich regelmäßig an der Rechtsbehelfsbelehrung fehlt, gilt die Jahresfrist nach §§ 70 und 58 Abs. 2 VwGO ab zuverlässiger Kenntniserlangung bzw. ab dem Zeitpunkt der groben Fahrlässigkeit[856].

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      Liegen die Voraussetzungen der Verwirkung – Zeit- und Umstandsmoment – als Unterfall des Grundsatzes von Treu und Glauben vor, kann der Nachbar sowohl sein Verfahrensrecht (bspw.: Widerspruchsrecht) als auch sein materielles Abwehrrecht auf diese Weise verlieren[857]. Diese Folge ist bereits vor Ablauf der Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VwGO möglich[858].

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      Sowohl während des gesamten baugenehmigungsrechtlichen Ausgangs- und Widerspruchsverfahrens als auch während des Verwaltungsprozesses kann sich die maßgebliche Sach- und Rechtslage verändern. Dies wirft die Frage auf, auf welchen Zeitpunkt das Gericht abstellen soll bei der Beurteilung, ob die Baugenehmigung rechtswidrig ist und den Nachbarn in seinen Rechten verletzt. Da das Gericht – so zumindest im Ausgangspunkt – die Rechtmäßigkeit der behördlichen Entscheidung „im Moment ihrer Fixierung durch die Behörde“ bewerten soll, gilt für die Anfechtungsklage der Grundsatz, dass auf die letzte behördliche Entscheidung abzustellen ist, also regelmäßig auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids[859]. Diese Faustformel hat zur Folge, dass auch Änderungen der Sach- und Rechtslage während des Widerspruchsverfahrens zu berücksichtigen sind, weil Ausgangs- und Widerspruchsverfahren eine Einheit darstellen[860]. Modifikationen dieser Faustformel können sich aber aus dem materiellen Recht ergeben – und eben das ist im Bauordnungsrecht der Fall: Hier sind Rechtsänderungen, die während des Widerspruchsverfahrens zu Lasten des Bauherrn eintreten, im Hinblick auf die ihm mit der Baugenehmigung eingeräumte Rechtsposition – die vom Schutz der Eigentumsfreiheit umfasst ist – nicht zu berücksichtigen[861]. Ändert sich die Rechtslage dagegen zugunsten des Bauherrn, nachdem ihm ursprünglich eine rechtswidrige Baugenehmigung erteilt worden war, kommt ihm diese Änderung zu Recht zugute – andernfalls müsste dem Bauherrn nach Aufhebung der Baugenehmigung sofort eine neue Baugenehmigung erteilt werden[862]. In einem solchen Fall bleibt dem Nachbarn nur, die Hauptsache für erledigt zu erklären, um nicht auf den Verfahrenskosten sitzen zu bleiben (siehe § 161 Abs. 2 VwGO).

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      Wie die Kontrollpflichten der Bauaufsichtsbehörden – zumindest traditionell – mit der präventiven und der repressiven Bauaufsicht zweigleisig verlaufen, so hat auch der Nachbar herkömmlich zwei Ansatzmöglichkeiten, gegen das Bauen des Bauherrn vorzugehen: Einerseits kann er die Baugenehmigung anfechten (präventiver Rechtsschutz), andererseits kann

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