Alexander von Humboldts Messtechnik. Werner Richter Manfred Engshuber
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Der Bezug auf eine, dem zu bewertenden Gegenstand angepasste Vergleichsgröße spielte schon in den frühen Kulturen eine bedeutende Rolle für den Austausch von Gütern oder Sachwerten, weil nur die Relation zu einer Vergleichsgröße einen äquivalenten Austausch von Gütern, Tieren und leider auch Menschen (Sklavenhandel!) möglich machte. Frühgeschichtliche Funde, zum Teil fünftausend Jahre alt, aus Mesopotamien, am Nil und aus dem Indus-Tal beweisen die Benutzung von Wägesteinen für den Massevergleich. Für die Länge wurden aus Körpermaßen abgeleitete Einheiten benutzt, wie Daumenbreite28, Spanne, Fuß, Elle oder Klafter [26]. Heinrich I. von England ließ 1101 die Einheit Yard festlegen als Abstand (seines) ausgestreckten Daumens von der Nasenspitze bei ausgestrecktem Arm. Ebenso überliefert sind gegenständliche „Normale“ für die Längenmessung29. Auch unterschiedliche Anwendungsgebiete bilden sich in alten Maßeinheiten ab: So ist die Existenz einer heiligen und einer gemeinen Elle in Assyrien und Ägypten für königliche Abgaben und für den gemeinen Handel nachgewiesen. Ebenso dominierten noch bis ins 19 Jahrhundert hinein regionale Gewohnheiten30. Deutlich kommt das bei Maßen für unterschiedliche Anwendungsbereiche zum Ausdruck. In Sachsen gab es beispielsweise bis 1840 eine Straßenrute (zu 4,531 m) und eine Ackerrute (3,398 m)31. Entsprechend war die Straßenmeile („2 Wegstunden“) 9,062 km lang. Sie wurde 1840 durch die Deutsche Postmeile (7,500 km) ersetzt.
Welche Bedeutung die Einheitlichkeit von Vergleichsmaßen schon frühzeitig hatte, wird aus den Aufbewahrungsorten wie Tempel oder anderen Heiligtümern deutlich32. Auch Karl der Große soll - vergeblich - versucht haben, in seinem Reich einheitliche Maße und Gewichte einzuführen. Eine große Ausnahme bildete das alte China, dessen Maßsystem über rund drei Jahrtausende hinweg Bestand hatte33.
Solange der Wirkungskreis eines Bürgers örtlich begrenzt war (Dorf, Stadt, Land), genügte auch das jeweils dort gültige Maßsystem, meistens von der regionalen Obrigkeit vorgegeben. Erst bei Verlassen dieser lokalen Gültigkeiten wurden Systemrelationen erforderlich, und diese nährten besonders im Bereich des Geldes eine ganze Berufsgruppe, die sicher nicht zu ihren Ungunsten die entsprechenden Umrechnungen ausführte – Namen wie die Medici oder die Rothschilds sind historische Beispiele dafür34
Die frühere Vielzahl an Vergleichsmaßen kann heute nur noch Kopfschütteln bewirken. So waren noch zu Beginn des 19. Jh. im damaligen Großherzogtum Baden 112 verschiedene Ellen, 92 Flächen- oder Feldmaße, 65 Holzmaße, 163 Fruchtmaße, 123 Flüssigkeitsmaße, 63 Wirt- oder Schenkmaße und 80 Pfundmaße in Benutzung [27]. Für einen Warenaustausch über Stadt- und Ländergrenzen hinweg waren derartige Wirrnisse äußert hemmend, vielfach Anlass zu Streitigkeiten und für einen auf Exaktheit bedachten Naturforscher wie Humboldt wohl auch sehr lästig. Wie jeder Reisende der damaligen Zeit bekam er die Unterschiede der länderspezifischen Festlegungen in Maßsystemen deutlich zu spüren. In Reisetagebuch V [9, S. 131V] rechnet Humboldt die in Frankreich, Spanien und Kuba gebräuchliche Einheit Vara in Toisen um. Für die kastilianische Vara waren das 0,837 m. Je nach Land unterschieden sich die Werte jedoch um bis zu 8 % (!). Bei der Angabe von Daten hat Humboldt deshalb beinahe zwangsläufig die Herkunft der Maßeinheit oder den Bezugsort genannt. Darauf geht Brand in [2, S. 21f.] ausführlicher ein.
Wie erwähnt, dienten in der Historie als Maßeinheiten unterschiedliche Körperteile oder Gegenstände. Der zunehmend grenzüberschreitende Warenaustausch zwang schließlich zur weitgehenden Überwindung der traditionell und durch Willkür bestimmter Maßeinheiten. Gab es anfangs noch für Fläche, Länge, Volumen und Gewicht35 besondere Einheiten, die zueinander keinen Bezug hatten, so richteten sich alle Bestrebungen auf Maßsysteme mit wenigen Grundeinheiten (vor allem für Länge, Gewicht/Masse und Zeit). Um aus der Natur ein weitgehend unveränderliches Maß zu erhalten, bedurfte es allerdings auch besserer Kenntnisse über physikalische Konstanten. Diese konnten bis ins 19. Jahrhundert hinein naturgemäß auch nur aus dem damaligen Kenntnisstand heraus definiert werden. Noch galten damals die Dichte des Wassers, die Abmessungen der Erde oder die Schwingungsdauer eines Pendels bestimmter Länge als unveränderlich.
Erste fundamentale und bis heute gültige und benutzte Zeugnisse für eine solche Generalisierung sind das Urmeter (mètre des archives) und das Urkilogramm (kilogramme des archives)36. Diesen und anderen Festlegungen auf aus der Natur entnommene oder durch Vereinbarung festgelegte Maßverkörperungen haftet allerdings immer noch der Makel an, dass sich bei späteren Nachprüfungen und besseren Methoden Abweichungen ergeben können. Erst ein Bezug auf unveränderliche (oder auf als solche definierte) Naturkonstanten schafft hier Abhilfe. Das nach vielen Bemühungen seit 1960 umfassend in Kraft gesetzte Internationale Einheitensystem (Système International d’Unités) mit dem Symbol SI beruht auf sieben Basiseinheiten. Selbst diese sind noch nicht alle auf Naturkonstanten zurückgeführt37. Die Forschungsbemühungen der metrologischen Staatsinstitute gehen dahin, sämtliche Einheiten nur noch auf Naturkonstanten zurückführen zu können38.
Alexander von Humboldt hat anfangs weitgehend französische Maße benutzt und sah sich dabei dem Prestigedenken regionaler Egoismen nach jeweils „eigenen“ Maßsystemen und den damit verbundenen Umrechnungsproblemen ausgesetzt. Der Übergang zum metrischen System, das der französische Nationalkonvent bereits am 26. März 1791 beschlossen hatte, dürfte ihm umso leichter gefallen sein – er tritt auch als Propagandist für das metrische Systeme auf. In seinen Schriften sind viele Maßangaben metrisch, zum Teil auch noch parallel dazu im französischen oder anderen Maßsystemen notiert. Ebenso benutzte er für Temperaturangaben sowohl die (französische) Reaumur-Skale39 als auch die sonst bereits üblich gewordene Celsius-Skale. Bei seiner Südamerikareise und den dabei erfassten Daten schrieb Humboldt oft das Datum in Form des bis 1805 offiziellen Revolutionskalenders, z .B. in [6]. Auch gab er parallel dazu verschiedentlich die Monatsnamen und Tage nach dem gregorianischen Kalender an, so in [6, S. 77-82].
Ein erzwungener Aufenthalt in Cumana (Venezuela) im August 1799 gab für Humboldt und seinem Mitreisenden Broda eine günstige Gelegenheit, die Eigenschaften aller Instrumente zu überprüfen und miteinander zu vergleichen. Beide maßen die Sonnen-, Mond- und Merkurdurchgänge an verschiedenen Tagen und schlossen daraus auf Unsicherheiten in der Größenordnung von wenigen Sekunden [9, S. 27-35; 79-82], was ihnen Sicherheit für die späteren Messung auf dem Festland verschafft haben dürfte. Dabei wird im Reisetagebuch (vermutlich aus Zeitgründen) die geografische Länge nicht in Winkelgraden, sondern in Zeitabständen zu Paris angegeben, wohl um sie wegen des Zeitaufwandes erst später umzurechnen oder umrechnen zu lassen. So hatte beispielsweise Gaspard de Prony mehr als vierhundert Höhendaten für Humboldt berechnet40.
Für die in den nachfolgenden Texten oft auftauchenden französischen Maßeinheiten gibt Brand in [2] Umrechnungsbeziehungen an (Tabelle 2).
Tabelle 2: Umrechnunggebräuchlicherfranzösischer Maßeinheiten
Für einige ermittelten Daten gab es um 1800 überhaupt noch keine allgemein anerkannten Vergleichsgrößen, vor allem zur Bewertung elektrischer und magnetischer Phänomene (siehe hierzu ausführlich Kapitel. 5). In der Physik wurde zwar mit den drei Basiseinheiten Zentimeter, Gramm und Sekunde (CGS-System) gearbeitet, aber erst mit Ergänzung um eine elektrische oder eine magnetische Basisgröße (entweder der elektrischen bzw. der magnetischen Feldkonstanten) entstanden ein elektrostatisches und ein elektromagnetisches CGS-System, deren Entwicklung C. F. Gauß und W. E. Weber maßgeblich betrieben.