Alexander von Humboldts Messtechnik. Werner Richter Manfred Engshuber
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Wie bereits gesagt, läuft das Messen immer auf eine Vergleichshandlung hinaus. Ein Messergebnis im engeren Sinn (als Produkt aus Zahlenwert und Einheit) kann nur dann formuliert werden, wenn ein Vergleich mit einer Verkörperung der Maßeinheit möglich ist. Auch müssen das Vergleichsmaß (und dessen Repräsentation, zum Beispiel als Skale an einem Gerät) sowohl der Aufgabe als auch dem zu erwartenden Wertebereich angepasst sein. Sonst könnte eine Messung unbrauchbar oder im Extremfall sogar gefährlich falsch werden.
Um 1800 war das Meter für damalige Verhältnisse schon gut definiert und in Form des Urmeters materiell repräsentiert41, was aber noch nichts über die Ungenauigkeit des „Meters“ in der täglichen Handhabung aussagt. Heute werden in Staatsinstituten Primärnormale dargestellt, von denen Sekundärnormale und weitere Normale niederer Ordnung abgeleitet werden. Dort dienen sie dann ihrerseits stufenweise zur Weitergabe bis an den Benutzer. Bei diesem sind das sind Arbeitsmessmittel, die ihrerseits je nach Anwendung in Klassen eingeteilt werden. Die Unsicherheit42 vergrößert sich allgemein um den Faktor 2 bis 5 bei der Weitergabe zur nächst niederen Ordnung43.
Arbeitsmessmittel haben heute infolge national und international geregelter Verfahrensschritte und Prüforganisationen eine jeweils konkret bekannte Unsicherheit44. Solche nachvollziehbare gesetzliche Vorschriften gab es zu Humboldts Zeiten nicht. Generalisierende Regelungen entstanden in den Folgejahren im Verlauf der industriellen Revolution und erst auf Drängen der Wirtschaft Im Hinblick darauf kann es gelegentlich schwierig werden, die Unsicherheiten der von Humboldt benutzten Messmittel genügend genau beziffern und die Messergebnisse insgesamt bewerten zu können. In solchen Fällen werden Abschätzungen nicht zu vermeiden sein.
2. Zeitmessungen
Zeit, Länge und Winkel gehören neben dem Zählen zu den elementaren Größen, die zur quantitativen Bemessung einer Qualität unbedingt erforderlich sind. Der Größe Zeit kommt in diesem Umfeld eine dominierende Rolle zu.
Schon in der Urgesellschaft war der Zeitablauf über das Jahr und dessen Einteilung wichtig für Saat und Ernte, für kultische Feste und die damit verknüpften Rituale. Tätigkeiten von Individuen und Personengruppen in einer Gesellschaft sind generell eingeordnet in einen zeitlichen Rahmen, in ein Ritual oder sind gekoppelt an einen Arbeitsablauf. Im Agrarstaat genügte das Läuten der Kirchenglocken am Morgen, am Mittag und am Abend, um den Tagesablauf zu bestimmen, und im Orient ruft der Muezzin noch heute zu bestimmten Zeiten zum Gebet. In der aufkommenden Städtelandschaft erwies sich dieses Raster bald als zu grob und es wurde allmählich zu einem Stundenschlag der Turmuhr, später ergänzt um vier Viertel, übergegangen. In der heutigen modernen Industriegesellschaft wird die Zeit schließlich geradezu intensiv bewirtschaftet. Fahr- und Flugpläne, Sendezeiten, Just-in-time-Produktion und viele andere Rhythmen und Abläufe zwingen uns in ein Zeitkorsett mit fast pathologischen Auswirkungen45.
Zeit ist ein gerichteter Prozess und ist der unumkehrbare Ablauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie ist eine abstrakte Beschreibung des Verlaufsaspekts von rhythmischen und periodischen Prozessen in Natur und Gesellschaft46. Die Relativitätstheorie besagt, dass es nicht eine in allen physikalischen Systemen gleiche Zeit gibt, sondern dass in relativ zueinander bewegten Systemen jeweils eine andere Systemzeit gilt. Auch die Gravitation spielt eine Rolle: in der Nachbarschaft großer Körper läuft ein Uhr langsamer als beispielsweise im masseleeren Weltraum, und auf dem 4807 m hohen Mont Blanc läuft eine Uhr in 50 Jahren um 0,7 Sekunden schneller als im tiefer gelegenen Chamonix (1037 m ü. M.). Das sind etwa 10-16 s je Meter Höhendifferenz. Am Rand eines Schwarzen Loches würde die Zeit sogar stillstehen.
Bereits frühe Kulturen hatten aus dem Tages- und Jahresablauf oder aus den Mondphasen abgeleitete Zeitmaße. Im alten Ägypten war ein solches Maß der zwölfte Teil des lichten Tages, damit also jahreszeitlich bedingt auch unterschiedlich lang, und war bis ins frühe Mittelalter in Europa die Norm47. Hellenistische Astronomen führten den 24. Teil eines Tages als gleichbleibend lange Stunde ein. Von Ptolemäus stammt die Unterteilung in ein Sechzigersystem (Minute), und schließlich wurde die Sekunde als zweiter verminderter Teil der Minute (pars minuta secunda) eingeführt, denn bei der Nutzung von periodischen Pendelschwingungen zur Zeitmessung wäre die Minute eine viel zu grobe Einheit. Die Zeiteinheit Sekunde war damit über Minute und Tag aus astronomischen Abläufen abgeleitet. Seit 1967 ist sie als SI-Einheit definiert als das 9192631770-fache der Periodendauer einer Infrarotstrahlung des Cäsiumisotops 133Cs und ist mit der Genauigkeit von 10-12 erstmalig auf eine Naturkonstante zurückgeführt. Die Rotationsgeschwindigkeit unseres Wohnglobus Erde ist nämlich nicht ganz konstant, eine Umdrehung kann täglich bis zu 0,01 s schwanken und dauert allmählich länger48. So wurde 1971 festgelegt, dass bei einer Differenz von größer als 0,7 s zwischen Erdstellung und Atomzeit eine Schaltsekunde eingefügt wird, wie erst kürzlich geschehen.
Frühe Zeitmesser waren eher von orientierendem Charakter (Sonnenuhr) oder nur für kürzere Zeitabschnitte brauchbar, so als Dauer des Auslaufens von Wassergefäßen sowie Sanduhren oder der Brenndauer von Kerzen. Abgeleitet von Wasseruhren gab es bereits im 16. Jh. Räderuhren. Derartige Uhren mit Sekunden- und Minutenanzeige benutzte zum Beispiel Tycho Brahe bei der Beobachtung von Sternbildern. Der von Galilei formulierte Zusammenhang zwischen der Länge eines Pendels und dessen Schwingungsdauer veranlasste Christiaan Huygens zum Bau einer Pendeluhr, die auf 10 s/d genau ging (1,1·10-4). Später gelang es, die Genauigkeit auf 0,1 s/d (1,1·10-6) zu erhöhen. Für eine stationäre Uhr war das ein respektabler Wert, erfordert aber völlig ruhige Luft, eine erschütterungsfreie Aufstellung und ist damit nicht nutzbar für den Einsatz auf einem Schiff oder im Gelände.
Für einen Landbewohner im 17. oder 18. Jahrhundert wäre es allerdings auch völlig uninteressant gewesen, zu wissen, ob das Glockenzeichen vom Kirchturm auf die Minute oder Sekunde genau ertönt. Der Ersatz des klassischen Pendels durch die federgefesselte Unruh als Taktgeber entsprang eher dem Wunsch nach einer ortsveränderlichen (tragbaren) Uhr. Deren Ganggenauigkeiten waren vorerst wesentlich schlechter, und die ersten Taschenuhren mit Federaufzug hatten sogar nur einen Stundenzeiger, so das bekannte „Nürnberger Ei“ des Peter Henlein..
Das große Interesse an genau gehenden ortsveränderlich einsetzbaren Uhren hatte ursprünglich eindeutig kommerzielle und damit auch sehr direkt machtpolitische Beweggründe. Die Schiffe der seefahrenden Nationen konnten sich zwar mit astronomischen Mitteln oder am Erdmagnetfeld einigermaßen orientieren. Für eine einigermaßen genaue Navigation reicht das überhaupt nicht aus, weil im geografischen Koordinatensystem die Bestimmung der geografischen Länge auf eine genaue Zeitbestimmung angewiesen ist, wie das in Kapitel 4 noch ausführlicher dargestellt werden soll. Die auf Navigationsfehler zurückführbaren Verluste an Schiffen, Personal und Ladung müssen enorme Auswirkungen auf eine Wirtschaftsmacht gehabt haben, denn nur aus einer solchen Sicht heraus wird verständlich, dass das britische Parlament im Jahre 1714 einen Preis von 20.000 Pfund Sterling für den Bau eines Chronometers ausgelobt hat49, eine für die damalige Zeit enorme Summe50. Erst nach langem Zögern wurde 1764 ein Teil des Preises an John Harrison für sein Chronometer H 4 ausgezahlt; vorausgegangen waren konträre Auseinandersetzungen mit Verfechtern rein astronomischer Verfahren51.
Die Bedeutung der genauen Zeitmessung hat Humboldt vielfach betont. Die Genauigkeit damaliger Geräte ist zwar nicht immer belegt; auf sie lässt sich aber aus verschiedenen Angaben schließen. Sein Chronometer52 H 4 von Harrison zeigte auf einer Fahrt nach Jamaika und zurück in 5 Monaten eine Abweichung von nur 5,1 Sekunden, das entspricht einer Langzeit-Unsicherheit von 2,5·10-6, und das auf der Amerikareise auch benutzte Chronometer Nr.27 von Francois Berthoud wurde vorher in der Sternwarte der Marine in Marseille 18