Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems

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verschämt hängen dazwischen wenige Bilder in uralter Schönheit verstaubt, die niemand betrachtet, das Gemeinste und das Größte(,) heftig aneinandergeworfen, wird hier zu Wort und Schlag, die Schwäche wird dreist durch den Haufen, das Hohe ficht allein. Friedrich sah zum ersten Male so recht in den großen Spiegel, da schnitt ihm ein unbeschreiblicher Jammer durch die Brust, und die Schönheit und Hoheit und das heilige Recht, daß sie so allein waren, und wie er sich selber in dem Spiegel so winzig und verloren in dem Ganzen erblickte, schien es ihm herrlich, sich selber vergessend, dem Ganzen treulich zu helfen mit Geist, Mund und Arm.43

      Immerhin, schon hier wird der Großstadt zuerkannt, was ihre Bedeutung für die moderne Literatur begründen wird: daß sie „der getreueste Spiegel ihrer Zeit“ ist, doch geschieht dies ausschließlich insofern, als in ihr all das in geballter Form zu erfahren sein soll, was die neue Zeit an Negativem über die Menschen gebracht hat. Als Sitz des modernen Fabriken- und Maschinenwesens soll die Großstadt der Ort sein, wo dem Strom des Lebens das Leben und den Menschen der Schönheitssinn ausgetrieben wird, wo sich lebendige in mechanische Prozesse auflösen und man sich an das „Ekle“, „Kahle“ und „Farblose“ gewöhnt. Mit dem Schönheitssinn soll zugleich der Sinn für das Wahre und Gute ins Wanken geraten, sollen sich „Gemeinheit“ und „Schwäche“ breit machen und dank des großen „Haufens“ auf eine Weise die Oberhand gewinnen, die die wenigen, in denen noch die „Hoheit“ und das „heilige Recht“ leben, zu einem Leben in Einsamkeit verdammt. In der großen Stadt ist für den Romantiker Eichendorff alle „Poesie des Herzens“ am Ende, dominiert „Prosa“ die Verhältnisse, und so entfernt er sie so rasch wie möglich wieder aus dem Fokus der Darstellung. Ihre Bedeutung erschöpft sich bei ihm darin, eine äußerste Herausforderung des „wahren poetischen Sinnes“ zu sein. [<<92]

      3.1.1 Großstadtdichtung bei Baudelaire

      Die Großstadt als Schauplatz einer neuen Schönheit

      Das genaue Gegenstück zu dieser Sicht der großen Stadt findet sich ein knappes halbes Jahrhundert später bei Charles Baudelaire,44 dem Vater der modernen Großstadtdichtung. Nicht daß er die Vorstellung von dem ästhetisch und moralisch zweifelhaften Charakter des Großstadtlebens widerrufen würde – im Gegenteil: es ist auch für ihn ein Ort, „wo jede Scheußlichkeit wie eine Blume blüht“ (où toute énormité fleurit comme une fleur). Aber diese „Scheußlichkeiten“ werden für ihn nun eben zu „Blumen“, begründen eine eigene, neue Form von Schönheit, die auch sie zu einer Quelle der Kunst, ja zu dem einzig lohnenden Objekt einer wahrhaft modernen Dichtung macht.

      Es ist die Schönheit einer „ungeheuren“, „feilen“ „Dirne“, der „infernalische Charme“ (charme infernal) der Hure Babylon, also eine Schönheit, die nichts mehr mit dem Wahren und Guten zu tun hat, die jenseits der klassischen Begriffe von Kalokagathie, „jenseits von Gut und Böse“ angesiedelt ist. Aber auch so, ja gerade so wird sie für Baudelaire zu einem wahren Lebenselixier und damit zur Quelle einer „Kunst, die Leben hat“ (Georg Büchner), scheint der „infernalische Charme“ der Hure Babylon doch auf nichts anderes zu zielen als darauf, „daß jung ich immer bliebe“. Für Baudelaire ist die große Stadt mithin durchaus nicht mehr das „flimmernd aufgeschmückte große Grab“, von dem Eichendorff gehandelt hat, ist sie keine Ansammlung von „Leichensteinen“ mehr, sondern der Schauplatz eines besonders intensiven, lebendigen Lebens, ein unversieglicher Quell der „Lebenssteigerung“.

      Der Epilog der „Blumen des Bösen“

      So ist es in einem Gedicht zu lesen, das Baudelaire 1861 als Epilog für eine neue Auflage seines lyrischen Hauptwerks „Les Fleurs du Mal“ (Die Blumen des Bösen, 1857) konzipierte. Wie bei Eichendorff wird der Leser auf einen erhöhten Punkt über der Stadt geführt, von wo aus er sie als Ganze vor sich hat und sich zu ihr als Ganzer ins Verhältnis setzen kann. Das erinnert an jene Szene der Bibel, in der der Teufel Jesus auf einen hohen Berg führt und ihm die „Reiche der Welt und [<<93] ihre Herrlichkeit“ zu Füßen legt (Matth. 3, 8–11). Anders als der biblische Jesus und als Eichendorffs Friedrich widersteht Baudelaires lyrisches Ich nicht der Versuchung, ja gibt es sich ihr in vollen Zügen hin.

      Ausklang

      Das Herz zufrieden, stieg ich auf des Hügels Schwelle

      Von wo im weiten Raum die Stadt man liegen sieht,

      Spital, Fegfeuer, Hölle, Zuchthaus und Bordelle,

      Wo jede Scheußlichkeit wie eine Blume blüht.

      Du weißt, o Satan, Schutzherr meiner Unglückstriebe,

      Nicht hab ich eitle Tränen dort des Wegs versprüht.

      Doch wie ein alter Lustbock einer alten Liebe,

      Wollt ich der ungeheuren Dirne trunken sein,

      Die, höllisch-reizend, will, daß jung ich immer bliebe.

      Ob Schlaf dich wiegt noch in des Morgens Kissen ein,

      Schwer, dunkel, frostig, ob du stolz dich in den Fahnen

      Des Abends brüstest mit der goldnen Borten Schein,

      Ich lieb dich, feile Metropole! Kurtisanen

      Und Räuber, oft bereit, mir Freuden zu verleihn,

      Die nicht begreifen die gewöhnlichen Profanen.45

      Die „Metropole“ ist für Baudelaire geradezu ein Gegenstand der „Liebe“, ein Gegenüber, das seinem „Herzen“ auf die gleiche Weise zu tun gibt wie die Liebe zu einer Frau, die es bald „zufrieden“ sein läßt, ihm bald „Tränen“ abnötigt und bald „Freuden“ bereitet, die sich bis zur „Trunkenheit“ zu steigern vermögen. Sie ist für ihn mithin ein Objekt jener äußersten Form lebendiger Anteilnahme, die eine unabdingbare Voraussetzung für die künstlerische Gestaltung [<<94] von Erleben ist. Und so wird sie für ihn zum idealen Bezugsfeld für eine Dichtung, die, wie er an anderer Stelle erklärt, aus dem „Abscheu vor der Langeweile“ und dem „unsterblichen Verlangen“ erwächst, „sich leben zu fühlen“ (le désir immortel de se sentir vivre).46 Vor diesem „Verlangen“ schwinden alle ästhetischen und moralischen Bedenken dahin: „Was macht es schon, wie die Wirklichkeit außer mir aussieht, wenn sie mir nur geholfen hat zu leben, zu fühlen, daß ich bin und was ich bin“ (si elle m’a aidé à vivre, à sentir que je suis et ce que je suis)47 – ein Gedanke, der recht eigentlich das Herzstück des modernen Vitalismus bezeichnet und der zuvor etwa schon von Heinrich Heine, zum Beispiel in dessen Reisebild „Ideen. Das Buch Le Grand“ (1827) erprobt worden ist.

      Dichtung und Flanerie

      Baudelaire geht aber noch einen Schritt weiter. Er will in der modernen „Riesenstadt“ nicht nur jene Intensität des Erlebens gefunden haben, deren der Dichter bedarf, um produktiv zu werden – er schreibt ihr auch eine besondere, nur ihr eigene Form des Erlebens zu, durch die dem Geschäft des Dichters immer schon vorgearbeitet wäre und das insofern selbst bereits Poesie wäre: das Erlebnis des Aufgehens in der Menge, wie es einem „Flaneur“, einem Menschen zuteil wird, der sich ziellos durch die Straßen treiben läßt.48 Das Spezifische des „Lebens in den Riesenstädten“ ist für Baudelaire „das Durcheinander ihrer zahllosen Beziehungen“ (le croisement de leurs innombrables rapports).49 Dieses „Durcheinander“ wird für den, der sie in der Haltung des Flaneurs durchmißt, auf eine handgreifliche, sinnliche Weise erfahrbar. Dabei kommt er jeder Form von Menschentum und Menschenschicksal nahe, wird ihm jene empathische „Verbundenheit mit dem Allgemeinen“ (communion universelle) zuteil, die für Baudelaire das letzte Ziel von Dichtung ist. Es ist eine Allverbundenheit, die vor allem auch das mit einbegreift, was die „gewöhnlichen Profanen“ nach Kräften

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