Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
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Masse, Einsamkeit: gleichwertige Ausdrücke, die der tätige und fruchtbare Dichter miteinander vertauschen kann. Wer seine Einsamkeit nicht zu bevölkern versteht, versteht auch nicht allein zu sein in einer geschäftigen Menge.
Der Dichter genießt das unvergleichliche Vorrecht, nach seinem Belieben er selbst und ein anderer sein zu können. Wie jene irrenden Seelen, die sich einen Körper suchen, geht er, wenn er nur will, in das Wesen jedes Menschen ein. Ihm allein steht alles offen; und wenn manche Plätze ihm verschlossen zu sein scheinen, so nur deshalb, weil sie ihm einen Besuch nicht zu lohnen scheinen.
Der einsame und nachdenkliche Wanderer schöpft einen einzigartigen Rausch aus solcher Verbundenheit mit dem Allgemeinen. Der Mensch, der leicht in der Menge aufgeht, kennt Fieberschauer von Genüssen, um die der selbstsüchtige Ichmensch, verschlossen wie ein Schrein, und der Träge, eingekapselt wie ein Muscheltier, ewig betrogen sind. Er macht sich alle Berufe, als wären es die seinigen, zu eigen, alle Freuden und alles Elend; wie die Umstände es ihm bieten.
Das, was die Menschen Liebe nennen, ist sehr gering, sehr beschränkt und sehr schwach, verglichen mit jenem unsagbaren Rausch, jener heiligen Preisgabe der Seele, die sich ganz und ungeteilt, als Dichtung und barmherzige Liebe, dem Unverhofften, das sich darbietet, dem Unbekannten, das vorübergeht, verschenkt.50
Das sind Passagen aus „Der Spleen von Paris“ (Le Spleen de Paris, 1869), einer Sammlung von Prosagedichten (poèmes en prose), die Baudelaire als sein zweites poetisches Hauptwerk neben den „Blumen des Bösen“ ansah. Das Prosagedicht51 ist eine Form, die er sich, wie er in der [<<96] Widmungsvorrede erklärt, eigens zur „Beschreibung des modernen Lebens“ hat einfallen lassen. In ihm versucht er sich an der Gestaltung einer Prosa, die auch „ohne Rhythmus und ohne Reim“ den „lyrischen Regungen der Seele“ Ausdruck zu verleihen vermöchte.52 Im Grunde handelt es sich dabei um den Versuch, die journalistische Textsorte des Feuilletons poetisch zu adeln, ein Unternehmen, an dem sich vor Baudelaire bereits Heine in den „Reisebildern“ auf seine Weise versucht hat. So sind denn die meisten Prosagedichte des „Spleen von Paris“ auch zunächst in diversen Tageszeitungen erschienen.
Der Dichter als Straßenköter
Das Schlußstück ist ein Prosagedicht, in dem Baudelaire die Dichtung dadurch auf die großstädtische Lebenswelt und das Großstadterlebnis einzuschwören sucht, daß er den Straßenköter, den „chien flâneur“, den Hund, der „einsam in den gewundenen Schluchten der unermeßlichen Städte umherirrt“, zum Modell eines wahrhaft modernen Dichtertums stilisiert; es ist überschrieben „Die braven Hunde“ (Les bons chiens). Der Vergleich mit dem Straßenköter erlaubt es ihm, die Erlebnisform der Flanerie noch etwas grundsätzlicher zu fassen, ihr über die ästhetische Bedeutung hinaus eine existentielle Dimension zu geben.
Daß es sich um einen poetologischen Text handelt, zeigt sich zunächst darin, daß er anders als die übrigen Kapitel des „Spleen von Paris“ mit einer Anrufung der Musen beginnt, genauer gesagt: mit der Absage an die „akademische Muse“ und der Hinwendung zur „alltäglichen, städtischen, lebendigen Muse“ (la muse familière, citadine, vivante). Wie Homer und Vergil die Musen des Götterhimmels der Antike anriefen, damit sie ihnen hälfen, die Geschichten vom Untergang Trojas und von der Gründung Roms zu besingen, so wendet er sich an diese seine Muse, um sich ihres Beistands beim Besingen der Straßenköter zu versichern. Das ist natürlich nur eine poetische façon de parler, ein rhetorischer Kniff; in Wahrheit geht es darum, der „akademischen Muse“ und mit ihr dem „Epigonenschweif der Antike“ den Garaus zu machen und einer am urbanen Leben der Gegenwart orientierten Dichtung zum Durchbruch zu verhelfen. Die poetologische Dimension des Texts gewinnt weiter an Profil, wo der Straßenköter mit „Seiltänzern“ [<<97] (saltimbanques) und fahrenden Komödianten (histrions) verglichen wird, und er wird vollends offenbar, wo es heißt, daß der Dichter den Straßenköter „brüderlichen Auges betrachte“. Ein Dichter, wie Baudelaire ihn versteht, wird sich mit dem „chien flâneur“ identifizieren, wird in ihm sich selbst und sein Schicksal wiedererkennen, und darauf kommt es bei der Schilderung der „braven Hunde“ vor allem an.
Wie die „großstädtische Muse“ der „akademischen Muse“ gegenübergestellt wird, so der Straßenköter dem Salon- und Schoßhund, der „chien flâneur“ dem „chien bellâtre“: hier der Dichter als armer Hund, und dort der Dichter als Schoßhund der Gesellschaft. In den Salons der Gesellschaft ist der Dichter zwar frei von „Not“, ist er vor Schmutz und Elend sicher, doch nur um den Preis einer Existenz, die irgendwo zwischen denen des „Kinds“, des „galanten Dämchens“ und des „Dienstboten“ angesiedelt ist, um den Preis einer Abhängigkeit, die er nur auf sich nehmen wird, wenn die Eitelkeit in ihm stärker ist als jede andere Regung, und die ihn letztlich ebensowohl seinen „Instinkt“, seine empathischen Talente, wie seinen „Verstand“ kostet, die beiden Vermögen, ohne die man eigentlich nicht Dichter sein kann.
Dem stellt Baudelaire nun eben den Straßenköter als Gegenmodell gegenüber. Es ist das Modell einer Existenz, in der die Mobilität der Moderne geradezu die Form der „Unbehaustheit“ angenommen hat, einer vollkommen ungesicherten Existenz, so wie man es auch beim fahrenden Volk, bei Pennern und „Zigeunern“, Schaustellern, Straßenmusikanten und anderem Jahrmarktsgelichter antreffen mag. Die Schule des Straßenköters ist nicht die „Akademie“ mit ihren nach allen Regeln der Kunst durchgekauten Bildungsschätzen, sondern die Straße, und damit das Leben selbst, ist die Notdurft (nécessité), der Kampf ums Dasein, und eine bessere Schule kann es für die beiden Grundtugenden des Dichters, für „Instinkt“ oder „Witterung“ und „Verstand“ nicht geben.
Weg mit der akademischen Muse! Mit dieser alten Betschwester habe ich nichts zu tun. Ich rufe die alltägliche, die städtische, die lebendige Muse an, damit sie mir helfe(,) die braven Hunde, die armen Hunde, die mit Kot bespritzten Hunde zu besingen, die Hunde, die jeder von sich fern hält, weil sie verpestet und verlaust sind, nur nicht der Arme, dessen Genossen sie sind, und der Dichter, der sie brüderlichen Auges betrachtet. [<<98]
Pfui über den geleckten Hund, diesen vierfüßigen Gecken, Dänen, King Charles, Mops oder Wachtelhund, so entzückt von sich selbst, daß er höchst zudringlich zwischen die Beine oder auf die Knie des Besuchers springt, wie wenn er sicher wäre(,) ihm Freude zu machen; ausgelassen wie ein Kind, einfältig wie ein galantes Dämchen, manchmal mürrisch und unverschämt wie ein Dienstbote! Pfui über diese vierpfotigen Schlangen, fröstelnd und faul, die man Windhunde nennt und die in ihren spitzen Schnauzen nicht einmal genug Witterung haben, um der Spur eines Freundes zu folgen, noch in ihrem platten Kopf genug Verstand, um Domino zu spielen.
In die Hütte mit all diesen lästigen Schmarotzern! Zurück mit ihnen in ihr seidengefütterte(s) (Körbchen)! Ich singe den kotbespritzten Hund, den armen Hund, den Hund ohne Behausung, den streunenden Hund, den Seiltänzerhund, den Hund, dessen Instinkt, wie der des Armen, des Zigeuners und des Komödianten wunderbar geschärft ist durch die Not, die so gute Mutter, die wahre Schutzgöttin der gescheiten Leute! Ich singe die armseligen Hunde, die einsam in den gewundenen Schluchten der unermeßlichen Städte umherirren, und sie, die dem verlassenen Menschen mit geistvoll blinzelnden Augen sagten: „Nimm mich zu dir, und aus dem Elend von uns beiden machen wir dann vielleicht so etwas wie Glück!“53
3.1.2 Der Weg der deutschen Literatur in die Großstadt
Der Großstadtroman des 19. Jahrhunderts
Die deutsche Literatur hat sich zunächst mit solchen Vorstellungen schwergetan, sehr viel schwerer jedenfalls als die französische. Diese war bereits durch den Roman an das Thema Großstadt gewöhnt, hatte im Medium des Großstadtromans bereits einen Sinn und eine Sprache für das Spezifische des Großstadtlebens