Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
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Auf den ersten Blick könnte man meinen, nichts sei leichter als dies. Denn der Weg in die Moderne ist mit Theorien der Moderne gepflastert. Die verschiedensten Wissenschaften, etwa die Philosophie, die Geschichtswissenschaft, die Soziologie und die Politikwissenschaft, haben sich unausgesetzt an Analysen der modernen Welt versucht, so daß man glauben könnte, der Literarhistoriker bräuchte hier nur zuzugreifen. Aber eine Literaturwissenschaft, die sich selbst und ihren Gegenstand ernst nimmt, wird ihre Begriffe von Moderne nicht einfach von anderen Wissenschaften übernehmen wollen, so [<<13] wichtig ihr der Dialog mit diesen auch sein mag; sie wird versuchen, ihre Vorstellung von den modernen Verhältnissen bei ihrer Auseinandersetzung mit der Literatur auf eigene Hand zu entwickeln.
Denn die Literatur ernst zu nehmen heißt, ihr zuzugestehen, daß sie etwas Eigenes, Eigenständiges zum Bild der Welt beizutragen habe, etwas, das durch nichts anderes, durch keine andere kulturelle Aktivität und insbesondere durch keine Wissenschaft zu ersetzen sei. Wer die moderne Literatur ernst nimmt, der wird davon ausgehen, daß jede Theorie der Moderne unvollständig bleiben, ja hohl und schief werden müßte, die den Beitrag der Literatur zum Bild der modernen Verhältnisse nicht zu würdigen verstünde. Dieser Beitrag gründet bekanntlich vor allem darin, daß sie bei allem, was sie zur Darstellung bringt, zugleich zu erkennen gibt, „wie den Menschen zumute ist“ (Goethe); daß sie stets mit bezeugt, wie die Menschen die Gegebenheiten, von denen die Rede ist, erleben, wie sie sie empfinden, bewerten und beurteilen, und daß sie dem auf eine Weise Geltung verschafft, die keiner anderen Art des Redens, keiner anderen kulturellen Aktivität und schon gar keiner Wissenschaft gegeben ist.
Eben um die Erkundung dessen, was die Literatur aufgrund ihrer besonderen Fühlung mit dem Zumutesein des Menschen aus Eigenem zum Bild der modernen Welt und zum Selbstverständnis des modernen Menschen beizutragen hat, soll es im folgenden gehen. Deshalb kann es hier nicht genügen, auf bereits durch andere Wissenschaften ausgearbeitete Theorien der Moderne als fertige, vorab feststehende Theorien zurückzugreifen und von ihnen aus an die Darstellung der modernen Literatur zu gehen. Vielmehr soll versucht werden, die sozial-, kultur- und geistesgeschichtlichen Rahmenbedingungen, die bei der Annäherung an sie mit zu bedenken sind, so weit wie möglich in der Auseinandersetzung mit der Literatur selbst zu entwickeln, als etwas, dessen Konturen auch von ihr aus und gerade von ihr aus kenntlich werden. Andernfalls hätte sich das Unternehmen vorab bereits um seinen möglichen Ertrag gebracht. Denn wozu sollte man noch die Literatur befragen, wenn schon anderweit festgestellt wäre, was Sache ist.
Die Literatur als kritischer Zeuge der Modernisierung
Und zu einem solchen Vorgehen gibt die moderne Literatur selbst allen Anlaß. Für sie ist nämlich keineswegs schon ausgemacht, was die Moderne ist. Wie die Literatur zu keiner Zeit nur eine Widerspiegelung [<<14] von geschichtlichen Entwicklungen und gesellschaftlichen Diskursen gewesen ist, wie sie immer schon mehr und anderes war als nur ein Dokument, ein historisches Zeugnis neben anderen, nämlich ein kritischer Zeuge, so auch die moderne Literatur. Mitten in der modernen Welt stehend und sich nach Kräften auf sie einlassend und ihrer Dynamik aussetzend, hat sie sich doch an nichts anderem versucht als daran, diese moderne Welt auf Distanz zu stellen und einem kritischen Blick zu unterwerfen. Die moderne Literatur läßt sich geradezu als ein einziger großer kritischer Kommentar des Prozesses der Modernisierung lesen. Dieser kritischen Zeugenschaft gilt es Rechnung zu tragen.
Die moderne Literatur ist in der modernen Welt zugleich zu Hause und fremd. Sie will nirgendwo anders sein als in ihr und kann doch in ihr nicht aufgehen. Insofern hat sie denen, die Nietzsche „Bildungsphilister“ nennt, also denen, die sich gegenüber der Dynamik der Moderne in einer rückwärtsgewandten Bildungswelt verschanzen, ebensowenig zu bieten wie dem Widerpart des „Bildungsphilisters“, dem „Modernisierungsphilister“, dem die Teilhabe an der Modernisierung immer schon verbürgt, unterwegs zur besten aller Welten zu sein, und der deshalb um jeden Preis modern sein will. Mit beiden gleichermaßen steht die moderne Literatur auf Kriegsfuß.
Und wie sollte es anders sein, da sich die Literatur der modernen Welt mit Mitteln der Kunst nähert. Denn die Kunst wendet sich der Welt auf eine Weise zu, für die Alexander Gottlieb Baumgarten, der Vater der modernen Ästhetik, schon im 18. Jahrhundert den Begriff der ästhetischen Thaumaturgie gefunden hat. Sie gründet in einer Art Handwerk des Staunens (griechisch: thaumazein); nichts ist ihr selbstverständlich, alles wird ihr zum Gegenstand der Verwunderung, auch das und gerade das, worüber ihre jeweiligen Zeitgenossen als etwas Bekanntes und Vertrautes hinweggehen. Insofern fühlt sich die Literatur in der Welt, in der sie sich vorfindet, immer mehr oder weniger fremd, hat ihre Arbeit an der Darstellung von Welt immer etwas mit „Verfremdung“ zu tun, auch dort, wo sie sich nicht geradezu auf den Begriff der Verfremdung beruft, wie wir das etwa von Bertolt Brecht her kennen. Statt von Thaumaturgie und Verfremdung könnte man mit Robert Musil auch vom „Möglichkeitssinn“ der Literatur sprechen: was immer ihr an Wirklichkeit in den Blick [<<15] kommt, nimmt sie in dem Gedanken wahr, daß alles auch ganz anders sein könnte.
Zur Konzeption dieser Einführung
Das Bild der modernen Welt, das zugleich der Ausgangs- und der Zielpunkt dieser Einführung ist, soll mithin vor allem von der Literatur aus entwickelt werden, als einem kritischen Zeugen der Prozesse, in denen sich diese Welt herangebildet hat. So soll denn die Literatur hier so oft wie möglich selbst zu Wort kommen. Der Leser soll die erörterten Fragen von literarischen Texten aus kennenlernen, er soll sich dabei in die Formensprachen der Moderne einlesen und auf eigene Rechnung ein Bild von ihnen machen können. Das setzt der Systematik der Darstellung natürlich gewisse Grenzen. Die Entwicklung von Problemzusammenhängen wird immer wieder für das Vorstellen und Kommentieren von Textbeispielen zu unterbrechen sein, und da sich literarische Texte nur selten mit einem einzigen Problem befassen, da sie in der Regel eine Vielzahl von Themen gleichzeitig anschlagen, mit denen sie auf die unterschiedlichsten Problemfelder führen – die „Polythematik“ der literarischen Rede – wird sich das, was zu ihrer Erläuterung zu sagen ist, kaum einmal ganz in systematische Überlegungen einbinden lassen.
Daß der Leser so oft wie möglich der Literatur selbst begegnen soll, wird überdies weder für einen schulgerechten Abriß der literaturgeschichtlichen Entwicklung noch für einen Überblick über die einschlägige Forschung genug Raum lassen. Am Ende wird der Leser mithin manche der von der Wissenschaft besonders intensiv diskutierten Fragen, manchen prominenten Autor und etliche der inzwischen als klassisch geltenden Werke zu vermissen haben. Es steht freilich zu hoffen, daß er in eben dem Maße, in dem er sich an den ausgewählten Texten auf exemplarische Weise mit Grundlagen, Grundfragen und Grundformen der modernen Literatur bekanntmachen kann, auch mit den literarhistorischen Fragen, den Autoren und Werken besser zurechtkommen wird, die hier nicht eigens verhandelt werden.
Gottfried Benn: „1886“
So wollen wir uns denn auch für die erste Annäherung an die Moderne von einem literarischen Text an die Hand nehmen lassen. Um die Wende von 1944 zu 1945 schreibt Gottfried Benn (1886–1956)1 [<<16] ein Gedicht auf sein Geburtsjahr 1886, in dem vom Ende des Entwicklungsbogens aus, der oben skizziert worden ist, der Blick auf die Zeit gerichtet wird, in der alles begann. Es ist ein Blick, der aus dem Staunen darüber lebt, wie sehr sich die Welt in diesen sechs Jahrzehnten verändert hat, im Guten wie im Bösen. Und die Jahre 1944 und 1945 sind böse Jahre, vielleicht die bösesten, die die Moderne bis dahin gesehen hat. Die Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reichs und seines Weltkriegs läuft auf Hochtouren, die ganze Welt scheint in Trümmer zu sinken. Von hier aus stellen sich die Verhältnisse des Jahres 1886 als „gute alte Zeit“ dar, und seine Literatur als Ausdruck eines Bewußtseins von geradezu atemberaubender Harmlosigkeit. Unter der Oberfläche ist das Neue freilich schon da, jenes Neue, das eine ganz andere Literatur erfordern