Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems

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18. Jahrhundert. Schon in den Schriften des Autors, der als der wichtigste Vorkämpfer und Inbegriff des modernen Individualismus gilt, schon bei Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) bringt sich ein Individuum zur Darstellung, das sich als durch und durch problematisch erlebt, das überdies mehr von Erfahrungen der „Entfremdung“ zu berichten hat als von Momenten authentischen Selbstseins. Nicht umsonst sind die Worte, die zur Losung der „Befreiung“ des Individuums geworden sind, ist das „Hast du’s nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?“ aus Goethes „Prometheus“ vom Autor mit einem Fragezeichen versehen.

      Dabei ist es im 19. Jahrhundert weithin geblieben. Das Ich, das sich in dessen liedhafter Lyrik zu Wort meldet, ist in der Regel ein angefochtenes Ich, eines, das für sein Selbstsein zu kämpfen hat.10 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nehmen die Probleme mit dem Selbstsein dann allerdings ganz andere Ausmaße an, wachsen sie in eine Dimension hinein, die die Frage aufkommen läßt, ob sie mit den Mitteln einer liedhaften Lyrik überhaupt noch adäquat zu gestalten seien.11 Daß der moderne Individualismus dem Ich ein authentisches Selbstsein verheißt, hat es nach und nach immer sensibler für die Kräfte und Mächte werden lassen, die seiner „freien Selbstbestimmung“ entgegenstehen, die es von innen steuern und von außen begrenzen. Zugleich hat die moderne Wissenschaft ein immer profunderes Wissen um diese Kräfte und Mächte ausgearbeitet, hat sie aufgedeckt, in welchem Maße es von ihnen „determiniert“ ist, auch und gerade dort, wo es sich ihrer gar nicht bewußt wird.

      So haben die moderne Biologie, Medizin und Psychologie gezeigt, in welchem Maße das Ich in seinem Denken und Handeln von inneren [<<28] Kräften, von Trieben und Instinkten gelenkt wird. Und so haben die moderne Philosophie, Geschichtswissenschaft und Soziologie ein Bewußtsein davon geschaffen, welche Macht die äußeren Umstände, die geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse über es haben, wie sehr sie es in seiner Entwicklung befördern oder behindern, ja schon in seiner Konstitution als Ich bestimmen. Da wurde es für das Individuum immer schwieriger, an sich selbst und an das zu glauben, was sich in seinem Bewußtseinsleben an Vorstellungen regt, und das konnte natürlich nicht ohne Folgen für eine Literatur bleiben, die sich wesentlich als Sprachrohr des Individuums verstand.

      Das Ich zwischen Weltangst und Humor

      Das Bewußtsein von der Macht des Unbewußten bereitet sich im 19. Jahrhundert bereits allenthalben vor, aber es hat hier noch keine Konsequenzen für die Form der literarischen Rede, jedenfalls keine von grundstürzender Bedeutung. Das Ich bleibt mit seinen subjektiven Erlebnissen und Vorstellungen, Gefühlen und Stimmungen der Ausgangs- und Zielpunkt aller literarischen Aktivitäten, so daß auch die Probleme mit dem Selbstsein hier noch immer auf subjektiv-erlebnishafte Weise gestaltet werden. Das geschieht vor allem auf zwei verschiedenen Wegen, zum einen indem sich in den Texten ein Ich zu Wort meldet, dessen Lebensgefühl von Weltangst oder „Weltschmerz“ bestimmt ist, und zum andern indem eine Selbstironie und ein Humor kultiviert werden, die es dem Ich erlauben, zu seinen Nöten auf Distanz zu gehen.

      Einer Weltangst begegnen wir vor allem in der Literatur der Romantik, etwa bei Ludwig Tieck (1773–1853), E. T. A. Hoffmann (1776–1822) und Joseph von Eichendorff (1788–1857). Da treffen wir immer wieder auf Sprecher, denen ihre Wahrnehmungen und Erlebnisse, ja ihr gesamtes Bewußtseinsleben bis hin zu ihrer Selbstwahrnehmung sonderbar brüchig und fadenscheinig werden, so daß sie nach und nach von einer namenlosen Angst ergriffen werden. Von einem Leben im Zeichen des „Weltschmerz“ handelt die Literatur des Vormärz, handeln zum Beispiel Heinrich Heine und Georg Büchner (1813–1837). Innenwelt und Außenwelt, das Verlangen nach authentischem Selbstsein und das Erfordernis der Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse lassen sich auf keine Weise mehr zusammenbringen, so daß „Zerrissenheit“ und Verzweiflung bis hin zur Todessehnsucht das Schicksal des Individuums scheinen. Demgegenüber weiß es sich allenfalls mit den Mitteln einer Ironie Luft zu verschaffen, die es ebensowohl [<<29] versteht, die Ansprüche der Gesellschaft auf Distanz zu stellen, wie die Fixierung des Ichs auf sich selbst aufzubrechen und zu lösen. Und die Literatur des Realismus setzt bei ihren Versuchen, die Probleme des Selbstseins zu gestalten, vor allem auf den Humor. Er soll es dem Individuum erlauben, sich mit einem Lachen über die „Grenzen der Menschheit“ zu erheben, wie es sie zugleich an sich selbst und an seinen Mitmenschen zur Kenntnis zu nehmen hat. Beispiele dafür finden sich bei Gottfried Keller (1819–1890), Theodor Fontane (1819–1898) und Wilhelm Raabe (1831–1910).

      Die Problematisierung des Ichs in der modernen Literatur

      In Phänomenen wie Weltangst und „Weltschmerz“, Ironie und Humor bezeugt sich freilich, daß die Auseinandersetzung mit der Problematik des Selbstseins hier noch immer mit literarischen Mitteln geführt wird, die in einem subjektiv-erlebnishaften Zugriff auf die Welt gründen. Das ändert sich erst in den achtziger, neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, an der Schwelle der Moderne; bis dahin hat sich die Vorstellung von der Determiniertheit des Individuums auf eine Weise im Bewußtsein der Menschen breitgemacht und festgesetzt, daß die Frage aufkommt, ob das Ich weiterhin als Dreh- und Angelpunkt der literarischen Rede fungieren könne, ob so noch eine Literatur möglich sei, die den Menschen etwas bedeuten würde.12 Benns Gedicht auf das Jahr 1886 ist ein Beispiel für eine Form des lyrischen Sprechens, die sich, wie sich äußerlich bereits am Fehlen des Worts „ich“ zeigt, entschieden von dem subjektiv-erlebnishaften Ansatz gelöst hat, die mit jenem Zweifel Ernst zu machen versucht, in dem das Bewußtsein von der Determiniertheit des Individuums kulminiert, mit dem Zweifel, „daß ich überhaupt etwas bin“, dem Gefühl, „es geht nur etwas durch mich hindurch“ (GBP 469).

      So ist das Gedicht in dem Bewußtsein geschrieben, daß sich das, was durch das Ich „hindurchgeht“, keineswegs über seiner subjektiven Zuwendung in Erlebnisse verwandeln werde, die es sich als seinen ureigensten Besitz zurechnen könnte, die es ihm ermöglichen würden „etwas zu sein“; daß es das „Hindurchgehende“ nur registrieren könne, als etwas, das es wohl betrifft, das ihm aber unverfügbar ist und mehr [<<30] oder weniger äußerlich bleibt. Demgemäß bleibt Benns „lyrischem Ich“ (GBE 522) nichts anderes übrig, als die „zivilisatorischen Realitäten“, die an seiner Wiege standen und die seinen Lebensweg bestimmten, „auf Spalier zu ziehen“. Daß es sich dabei um sehr unterschiedliche Momente handelt, um eine Pluralität von Wirklichkeiten, die sich durchaus nicht zu einem einheitlichen Zusammenhang verbinden wollen, wird nicht verborgen, ja die Form der Montage führt dazu, daß sie in ihrer ganzen Heterogenität vor den Leser gebracht werden.

      Um eine solche Sicht der Dinge gegen die übermächtige Tradition der subjektiv-erlebnishaften Dichtung durchzusetzen, hat einer der wichtigsten Wegbereiter der ästhetischen Moderne, Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944), der führende Kopf der italienischen Avantgarde-Bewegung des Futurismus, die Parole ausgegeben: „il faut détruire le je dans la littérature“ – man muß das Ich in der Literatur zerstören (F 285), eine Forderung, die auch in Deutschland Gehör fand, vor allem in den Kreisen der Expressionisten und Dadaisten, und hier wiederum besonders bei Benn. Das aber bedeutet, daß die Vorstellung, ein Gedicht entstehe gemäß der Maxime „ich singe, wie der Vogel singt“, für ihn keine Geltung mehr hat: „Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht“ (GBE 505–506).

      Ähnlich hat sich Benns Antipode Bertolt Brecht (1898–1956) geäußert: „Ich schaue allerlei Leute krumm an, von denen mir bekannt ist, (…) daß sie singen, wie der Vogel singt, oder wie man sich vorstellt, daß der Vogel singt. (…) Davon, daß sie herumgehen und die Augen offenhalten, werden sie kaum genug in Erfahrung bringen“ (BS 987). Es bedarf weniger der subjektiv-erlebnishaften Zuwendung eines Ichs als vielmehr des Rückgriffs auf das Wissen, das die großen Kollektive der Gesellschaft zusammengetragen haben, das insbesondere die Wissenschaft erarbeitet hat, wenn der Literatur „ein tieferes Eindringen in die Dinge“ gelingen soll. Und bei Benn heißt es: „Der Lyriker kann gar nicht genug wissen, er kann gar nicht genug arbeiten, (…) er muß sich orientieren“ (GBE 528), eine Forderung, der er selbst zum Beispiel

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