Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems

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darf sich freilich nicht täuschen; auch wo sich das Ich nicht mehr in der Weise des „Ausdrucks“, der subjektiv-erlebnishaften Ich-Aussprache zu Wort meldet, hört es keineswegs auf, die Literatur zu [<<31] beschäftigen. Zumindest als „der einmalige, ganz besondere, in jedem Fall wichtige und merkwürdige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder“13 – so Hermann Hesse (1877–1962) – als Ort eines „Hindurchgehens“, als Umschlagplatz von Welt ist es weiterhin der unentbehrliche Ausgangs- und Zielpunkt der literarischen Rede. „Ein Gedicht ist immer die Frage nach dem Ich“ (GBE 511) – dies sagt der gleiche Benn, der sich an anderer Stelle zu dem Zweifel bekennt, „daß ich überhaupt etwas bin“.

      Das Gedicht auf das Jahr 1886 ist dafür ein gutes Beispiel, nimmt es sich damit doch das Geburtsjahr des Autors Benn vor. Es sind die Verhältnisse, unter denen dessen „einmaliges, ganz besonderes, in jedem Fall wichtiges und merkwürdiges“ Ich das Licht der Welt erblickte, was es zu fassen sucht, sind die Determinanten, unter denen dieses Ich zu einem „einmaligen, ganz besonderen Punkt“ wurde, „wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen“. In diesem Sinne ist es überall in Benns Gedicht präsent, obwohl es sich nicht mit dem Pronomen „ich“ zu Wort meldet, behält es weiterhin zentrale Bedeutung für die literarische Rede, wie sehr sich das Individuum auch immer seiner Determiniertheit bewußt werden mag. Und wie sollte es anders sein! Der Prozeß der Individualisierung ist ja mit dem Anbruch des 20. Jahrhundert keineswegs beendet; er setzt sich fort, und er nimmt dabei Formen an, durch die die Literatur vor immer neue Herausforderungen gestellt wird und der sie mit immer anderen formalen Lösungen zu entsprechen sucht.

      1.2.2 Der Fortschritt, die „Macht der Finsternis“ und die Schönheit

      Das Material der Montage in Benns „1886“

      Zu diesen neuen Formen gehört nun eben auch die der Montage, wie sie Benn in „1886“ zum Einsatz bringt. Sachverhalte und Begebenheiten, die den verschiedensten Bereichen des Lebens angehören, werden, wie es scheint, in beliebiger Abfolge aufgerufen und ohne ein Wort der Vermittlung aneinandergereiht. Da ist zunächst vom [<<32] Wetter des Jahres 1886 die Rede; das Gedicht hat also einen Beginn, den man bei der älteren Lyrik einen Natureingang nennt. Was dabei an Naturerscheinungen benannt wird, kommt allerdings weniger um seiner selbst willen in den Blick als vielmehr, weil es das zivilisatorische Getriebe durcheinanderbringt, und von diesem wird im folgenden ausschließlich gehandelt.

      Die Parade der „zivilisatorischen Realitäten“ beginnt mit einem Theaterstück des uns schon bekannten, von den Modernen des Epigonentums geziehenen Paul Heyse, das intrikate familiäre Verwicklungen zum Gegenstand hat. Sodann ist von der großen Politik die Rede, von der weltweiten Expansion der Kolonialmächte England, Frankreich und Rußland; dann von diversen Formen moderner Freizeitgestaltung, vom Radfahren, Bergsteigen und von der Hundezucht; dann vom Entwicklungsstand der deutschen Handelsflotte; dann von dem überaus kultivierten, kunstbeflissenen Leben des russischen Realisten Iwan S. Turgenjew (1818–1883), ein Leben, das merkwürdigerweise die Beschäftigung mit romantischer Musik und der Dichtung des Romantikepigonen Viktor von Scheffel (1826–1886) mit einbegreift – das soll wohl heißen, daß der Realismus des 19. Jahrhunderts der Vorstellungswelt der Romantik tiefer verhaftet gewesen sei, als er habe wahrhaben wollen – dann von allerlei Entdeckungen der modernen Biologie; dann vom Kampf nationalgesinnter Sprachpfleger gegen Fremdwörter, vom Ringen um ein Ladenschlußgesetz und vom Wahlkampf in Berlin; dann erneut von Literatur, von einer Literaturkritik, die die Banalitäten der Epigonen mit den stärksten Worten feiert, aber ohne jedes Gespür für das Neue ist, wie es sich in den Werken der Naturalisten Emile Zola, Henrik Ibsen (1828–1906) und Gerhart Hauptmann und des Symbolisten Gustave Flaubert (1821–1880), in dessen Roman „Salammbô“ (1863), anbahnt; und dann noch einmal von der modernen Biologie, nunmehr in evolutionärer Perspektive. Der Schlußpunkt wird mit einem Blick auf die boomende Rüstungsindustrie gesetzt, vertreten durch die prominentesten französischen, deutschen und russischen Waffenschmieden, die Firmen Schneider-Creuzot, Krupp und Putiloff.

      Problematisierung der Schönheit

      Das alles wird ohne jedes verbindende Wort hintereinander aufgereiht, wird mit harten Schnitten „montiert“ wie die Seiten einer Zeitung oder die Sequenzen eines Films. Gerade dies wäre einem [<<33] Lyriker im 19. Jahrhundert niemals in den Sinn gekommen. Sein Ziel war es, ein „organisches Ganzes“ zu schaffen, ein Gebilde, in dem sich alle Teile organisch auseinander entwickeln und harmonisch aneinander anschließen. Diesem Ziel suchte er selbst dort nahezukommen, wo er von einem zerrissenen Ich und einer auseinanderfallenden Welt handelte. Eine bestimmte Grundstimmung, zum Beispiel die des Weltschmerzes oder des Humors, ein bestimmter durchgängiger Gemüts- und Seelenton sollte dafür sorgen, daß sich beim Leser auch bei noch so disparater Motivik am Ende der Eindruck der Einheit in der Vielheit, der Eindruck der Schönheit einstellte.

      Von solcher Schönheit hat sich ein Vertreter der Moderne wie Benn offensichtlich verabschiedet; die Welt, deren Bild gezeichnet werden soll, und die Verfassung des Ichs, das sich an ihm versucht, lassen es nicht mehr zu, daß es sich zu einem „organischen Ganzen“ gestaltet. „Das Bewußtsein erträgt im Augenblick nur etwas, das in Bruchstücken denkt“ (GBE 532). Das soll freilich nicht heißen, daß die Begriffe der Schönheit, des „organischen Ganzen“ und des Subjektiv-Erlebnishaften für die moderne Literatur überhaupt keine Bedeutung mehr hätten. Wie Metrum und Vers, Reim und Strophe behalten auch sie ihren Stellenwert; allerdings bezeichnen sie hier nur noch eine Option neben anderen, finden sie sich hier in einem Umfeld wieder, das auch andere Möglichkeiten der literarischen Rede kennt und in dem sie sich im Vergleich mit diesen zu bewähren haben.

      Die Montage und die Frage nach dem „großen Ganzen“

      Freilich, so heterogen sich der Text von Benns Gedicht auch präsentiert und so hart er die „Erscheinungen der Welt“ aufeinanderprallen läßt – im Zuge der Lektüre bekommen es diese „Erscheinungen“ dann doch miteinander zu tun, erwächst aus dem Kaleidoskop von Aspekten, in denen die Welt des Jahres 1886 aufgerufen wird, nach und nach dann doch ein Gesamteindruck. Die Lesebewegung, das kontinuierliche Fortschreiten von einem zum anderen, hat zur Folge, daß die Motive im Horizont des Lesers miteinander reagieren, daß sie einander wechselseitig kommentieren und sich so zu einem Gesamtbild der geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse zusammenschließen.14 [<<34]

      Wenn da zum Beispiel zunächst von einem Theaterstück berichtet wird, in dem die Heldin Selbstmord begeht, weil sie nicht verkraften kann, daß ihr zukünftiger Gatte dermaleinst eine Affäre mit ihrer Mutter gehabt hat, und im Anschluß daran von den weltweiten Raubzügen der europäischen Kolonialmächte gehandelt wird, so mag sich der Leser fragen, was das Theater seinerzeit für einen Horizont gehabt habe. Was war das für eine Literatur, die sich die apartesten Verwicklungen und Seelenkonvulsionen einfallen ließ, während sich der Imperialismus mit blutiger Faust den Globus unterwarf? Oder er mag sich umgekehrt die Frage stellen, was eine so geartete Weltpolitik letztlich für das Leben des Einzelnen bedeute, inwieweit sie wirklich an es heran- und in es hineinreiche.

      Und so ähnlich wird er auch bei dem nächsten thematischen Sprung reagieren: während in der weiten Welt ein blutiger Beutezug den anderen ablöste, saßen in Berlin Menschen über dem Statut eines Vereins für Radfahrer beisammen und wurden hier Rassehunden Goldmedaillen umgehängt – wie borniert mußte man sein, um angesichts der weltpolitischen Lage mit derlei seine Zeit zu verbringen? Oder umgekehrt: kann die Weltpolitik ein Grund dafür sein, sich solcher harmlosen Aktivitäten zu enthalten? Am Ende all der thematischen Sprünge steht der Leser vor der Frage, wo seinerzeit der Ort gewesen sei, an dem man sich ein Bewußtsein von dem aberwitzigen Auseinanderlaufen der Dinge gab, wo man sich ihm stellte und es mit ihm aufnahm. Die Literatur war offenbar noch nicht dieser Ort, jedenfalls nicht die Literatur, die seinerzeit im Kulturbetrieb den Ton angab.

      Eine Diagnose der modernen Welt

      Auf

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