Anna Karenina, 1. Band. Лев Николаевич Толстой
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Darja Alexandrowna, im Korsett, die bereits spärlich werdenden Zöpfe des früher einmal üppig und schön gewesenen Haars im Nacken aufgesteckt, mit eingefallenem, hageren Gesicht und großen, aus den magern Zügen hervorstehenden, erschreckt aussehenden Augen, stand inmitten einer Menge im Raume umherliegender Sachen vor einer geöffneten Chiffonniere, aus welcher sie soeben etwas herausnahm.
Als sie den Schritt ihres Mannes vernahm, blieb sie stehen, den Blick auf die Thür gerichtet und angestrengt versuchend, ihrem Gesicht einen strengen und verachtungsvollen Ausdruck zu geben. Sie fühlte, daß sie ihn fürchtete und das bevorstehende Wiedersehen. Soeben hatte sie wieder versucht, was sie schon zehnmal versucht hatte innerhalb der letzten drei Tage; ihre und ihrer Kinder Sachen einzupacken um sie zu ihrer Mutter zu bringen – und wiederum hatte sie sich noch nicht dazu entschließen können. Aber auch jetzt, wie schon früher, hatte sie sich wiederholt, daß es so nicht fortgehen könne, daß sie handeln müsse, strafen, ihn beschämen und wenigstens einen kleinen Teil des Schmerzes an ihm ahnden, den er ihr bereitet. Sie sprach nur immer davon, daß sie ihn verlassen werde, aber sie fühlte, es sei unmöglich; es war in der That unmöglich, deshalb, weil sie sich nicht entwöhnen konnte, ihn als ihren Gatten anzusehen und als solchen zu lieben. Ferner erkannte sie auch, daß wenn sie hier, in ihrem eigenen Hause, kaum imstande war, ihre fünf Kinder zu beaufsichtigen, dies noch viel schwieriger dort werden würde, wohin sie mit ihnen allen wollte. Hierzu kam, daß seit drei Tagen das Kleinste erkrankt war, weil man ihm verdorbene Bouillon gegeben, und daß die anderen Kinder gestern fast nichts zu essen erhalten hatten. Sie fühlte es, daß das Haus zu verlassen unmöglich war, aber im Selbstbetrug packte sie gleichwohl die Sachen und stellte sich, als werde sie fahren.
Als sie ihren Gatten gewahrte, steckte sie die Hände in den Kasten ihrer Chiffonniere, als suchte sie etwas darin, und blickte erst zu ihm auf, als er ganz dicht an sie herangetreten war. Ihr Gesicht, dem sie einen strengen und entschlossenen Ausdruck geben wollte, drückte Verwirrung und Leiden aus.
„Dolly!“ begann er mit leiser, weicher Stimme. Er zog den Kopf in die Schultern und wollte sich einen kläglichen und devoten Ausdruck geben, strahlte aber dabei in Frische und Gesundheit. Mit schnellem Blick maß sie vom Kopf bis zu den Füßen seine von Jugendkraft und Gesundheit strotzende Erscheinung. „Ja, er ist glücklich und zufrieden,“ dachte sie, „und ich? Seine widerliche Gutherzigkeit, um die ihn jedermann so liebt und verehrt, ich hasse sie.“ Ihr Mund preßte sich zusammen, der Wangenmuskel auf der rechten Seite ihres bleichen nervösen Gesichts bebte.
„Was wünscht Ihr?“ frug sie mit fliegendem unnatürlichem Brusttone.
„Dolly!“ wiederholte er mit zitternder Stimme, „Anna wird heute hier ankommen.“
„Und was hat das für mich zu sagen? Ich kann sie nicht empfangen!“ rief sie aus.
„Aber du mußt doch, Dolly!“
„Geht, geht, geht!“ rief sie ohne ihn anzublicken, und als sei ihr dieser Schrei von einem körperlichen Schmerz entlockt.
Stefan Arkadjewitsch konnte wohl ruhig sein, wenn er seines Weibes dachte, er konnte hoffen, daß sich „alles noch machen werde“ nach dem Ausdrucke Matweys und ruhig seine Zeitung lesen und seinen Kaffee nehmen; als er aber ihr abgemagertes, leidendes Antlitz gewahrte, diesen Ton ihrer Stimme vernahm, der in das Schicksal ergeben und hoffnungslos klang, da stockte ihm der Atem, es schnürte ihm ein Etwas die Kehle zu, und seine Augen funkelten in Thränen.
„Mein Gott, was habe ich gethan! Dolly! Um Gottes Willen – Weißt du“ – er war außer stande, fortzufahren, ein Schluchzen saß ihm in der Kehle.
Sie klappte die Chiffonniere zu und blickte ihn an.
„Dolly, was soll ich sagen! Nur eines kann ich sagen: Vergieb! Erinnere dich, sollten neun Jahre des Lebens, Minuten nicht wieder erkaufen können, eine einzige Minute!“
Sie senkte die Augen und lauschte, in der Erwartung, was er noch sagen werde, und gleichsam als beschwöre sie ihn, daß er sie von seiner Unschuld überzeuge.
„Eine Minute der Vergessenheit,“ brachte er hervor und wollte fortfahren, aber bei diesem Worte krampften sich wie in körperlichem Schmerze abermals ihre Lippen zusammen und wieder spielte der Wangenmuskel auf der rechten Seite ihres Gesichts.
„Geht, geht, hinaus von hier!“ schrie sie noch durchdringender, „und sprecht mir nicht von Euren Fehltritten und Lastern!“
Sie wollte hinauseilen, aber sie begann zu wanken und mußte sich an der Lehne eines Stuhles halten, um sich zu stützen. Sein Gesicht verlängerte sich, seine Lippen traten auf und seine Augen schwammen von Thränen.
„Dolly!“ wiederholte er, schon schluchzend, „um Gottes willen, denke an unsere Kinder, sie sind doch unschuldig! Ich bin schuldig, bestrafe mich, befiehl mir, meine Schuld zu sühnen. Wie ich nur kann, ich bin zu allem bereit! Ich bin schuld, und es ist mit Worten nicht zu sagen, wie sehr ich schuldig bin! Aber, Dolly, vergieb!“
Sie ließ sich nieder. Er hörte ihren schweren, lauten Atem, und ein unbeschreiblicher Schmerz um sie überkam ihn. Mehrmals wollte sie zu sprechen beginnen, aber sie vermochte es nicht. Er wartete.
„Du gedenkst deiner Kinder nur, wenn du mit ihnen spielen willst, ich aber weiß, daß sie jetzt verloren sind,“ sagte sie, offenbar in einer Phrase, die sie während der letzten drei Tage nicht nur einmal für sich gesprochen haben mochte.
Sie sprach „du“ zu ihm, und er schaute voll Dankbarkeit auf sie und bewegte sich vorwärts, um ihre Hand zu ergreifen, sie aber trat mit Ekel vor ihm zurück.
„Ich gedenke wohl meiner Kinder, und würde daher alles thun in der Welt, um sie zu retten, aber ich weiß selbst nicht, womit ich dies thun soll; dadurch etwa, daß ich sie von ihrem Vater fortführe, oder dadurch, daß ich mit einem ausschweifenden Gatten noch zusammenbleibe, ja – mit einem ausschweifenden Gatten! Sagt selbst, angesichts des Vorgefallenen, ob es für uns möglich ist, weiter zusammen zu leben? Wäre das etwa möglich? Sagt doch, wäre das etwa möglich?“ wiederholte sie, ihre Stimme erhebend, „angesichts dessen, daß mein Gatte, der Vater meiner Kinder, in ein Liebesverhältnis mit der Gouvernante seiner Kinder tritt!“
„Aber was soll ich thun, was ist zu thun?“ erwiderte er mit kläglicher Stimme, ohne zu wissen, was er sagte, und den Kopf immer tiefer und tiefer hängen lassend.
„Ihr erscheint mir abstoßend, ekelerregend!“ rief sie aus, mehr und mehr in Erbitterung geratend. „Eure Thränen sind – nur Wasser! Ihr habt mich nie geliebt, in Euch ist kein Herz und kein Adel! Ihr seid für mich abstoßend, häßlich, fremd, ja – vollkommen fremd geworden!“ Voll Schmerz und Wut brachte sie das für sie selbst furchtbare Wort „fremd“ heraus.
Er blickte nach ihr hin; die Wut, welche sich auf ihren Zügen malte, erschreckte und befremdete ihn; er begriff nicht, daß sein Mitleid mit ihr sie in Erregung versetzte. Sah sie in demselben doch eben nur das Mitleid mit ihr und nicht die Liebe. „Nein, sie haßt mich, sie verzeiht mir nicht,“ dachte er bei sich.
„Es ist furchtbar, furchtbar!“ fuhr er fort.
In diesem Augenblick schrie in einem Nebenzimmer ein kleines Kind auf, welches gefallen sein mochte; Darja Alexandrowna horchte auf und ihre Züge wurden plötzlich weich. Sie besann sich noch einige Sekunden, als wüßte sie nicht, wo sie sei und was sie thun solle, dann bewegte sie sich, schnell aufstehend, nach der Thür.
„Aber sie liebt