Geschlecht und Charakter. Отто Вейнингер
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Der Charakter ist danach nicht etwas hinter dem Denken und Fühlen des Individuums Thronendes, sondern etwas, das sich in jedem Gedanken und jedem Gefühle desselben offenbart. »Alles, was ein Mensch tut, ist physiognomisch für ihn.« Wie jede Zelle die Eigenschaften des ganzen Individuums in sich birgt, so enthält jede psychische Regung eines Menschen, nicht bloß einzelne wenige »Charakterzüge«, sein ganzes Wesen, von dem nur im einen Momente diese, im anderen jene Eigentümlichkeit mehr hervortritt.
Wie es weiter gar keine isolierte Empfindung gibt, sondern stets ein Blickfeld und ein Empfindungsganzes da ist, als das dem Subjekte gegenüberstehende Objekt, als die Welt des Ichs, von welcher nur einmal der eine, ein anderes Mal der andere Gegenstand sich deutlicher abhebt: so steckt in jedem Augenblicke des psychischen Lebens der ganze Mensch, und es fällt nur in jeder Zeiteinheit der Accent auf einen anderen Punkt seines Wesens. Dieses überall in dem psychischen Zustande jedes Augenblickes nachweisbare Sein ist das Objekt der Charakterologie. So würde diese erst die notwendige Ergänzung der bisherigen empirischen Psychologie bilden, die, in merkwürdigem Gegensatze zu ihrem Namen einer Psychologie, bisher fast ausschließlich den Wechsel im Empfindungsfelde, die Buntheit der Welt, in Betracht gezogen und den Reichtum des Ich ganz vernachlässigt hat. Damit könnte sie auf die allgemeine Psychologie als die Lehre von dem Ganzen, das aus der Kompliziertheit des Subjektes und der Kompliziertheit des Objektes resultiert (die beide aus diesem Ganzen nur durch eine eigentümliche Abstraktion isoliert werden konnten), befruchtend und regenerierend wirken. So manche Streitfragen der Psychologie – vielleicht sind es gerade die prinzipiellsten Fragen – vermag überhaupt nur eine charakterologische Betrachtung zur Entscheidung zu bringen, indem sie zeigt, warum der eine diese, der andere jene Meinung verficht, darlegt, weshalb sie differieren, wenn sie über das gleiche Thema sprechen: daß sie über denselben Vorgang und denselben psychischen Prozeß aus keinem anderen Grunde verschiedener Ansicht sind, als weil dieser bei jedem die individuelle Färbung, die Note seines Charakters erhalten hat. So ermöglicht gerade die psychologische Differenzenlehre erst die Einigung auf dem Gebiete der Allgemeinpsychologie.
Das formale Ich wäre das letzte Problem der dynamischen, das material erfüllte Ich das letzte Problem der statischen Psychologie. Indessen wird ja bezweifelt, daß es überhaupt Charakter gibt; oder wenigstens sollte das vom konsequenten Positivismus im Sinne von Hume, Mach, Avenarius geleugnet werden. Es ist danach leicht begreiflich, warum es noch keine Charakterologie gibt als Lehre vom bestimmten Charakter.
Die Verquickung der Charakterologie mit der Seelenlehre ist aber ihre schlimmste Schädigung gewesen. Daß die Charakterologie historisch mit dem Schicksal des Ichbegriffs verknüpft worden ist, gibt allein noch kein Recht, sie sachlich an dasselbe zu binden. Und nur wer dogmatisch sich auf den Standpunkt des absoluten Phänomenalismus stellt und glaubt, dieser allein enthebe aller Beweislasten, die, schon mit seiner Betretung, von selbst allen anderen Standpunkten aufgebürdet seien, der wird das Sein, das die Charakterologie behauptet, und das noch durchaus nicht mit einer metaphysischen Essenz identisch ist, ohne weiteres abweisen.
Die Charakterologie hat sich gegen zwei schlimme Feinde zu halten. Der eine nimmt den Charakter als gegeben und leugnet, daß, ebenso wie die künstlerische Darstellung, die Wissenschaft sich seiner bemächtigen könne. Der andere nimmt die Empfindungen als das allein Wirkliche an, Realität und Empfindung sind ihm eins geworden, die Empfindung ist ihm der Baustein der Welt wie des Ich, und für diesen gibt es keinen Charakter. Was soll nun die Charakterologie, die Wissenschaft vom Charakter? »De individuo nulla scientia«, »Individuum est ineffabile«, so tönt es ihr von der einen Seite entgegen, die am Individuum festhält; von der anderen, die auf der Wissenschaftlichkeit allein besteht und nicht »die Kunst als Organ des Lebensverständnisses« sich gerettet hat, muß sie es wieder und wieder vernehmen, daß die Wissenschaft nichts wisse vom Charakter.
Zwischen solchem Kreuzfeuer hätte die Charakterologie sich zu behaupten. Wen wandelt da nicht die Furcht an, daß sie das Los ihrer Schwestern teilen, eine ewig unerfüllte Verheißung bleiben werde wie die Physiognomik, eine divinatorische Kunst wie die Graphologie?
Auch diese Frage ist eine, welche die späteren Kapitel zu beantworten werden suchen müssen. Das Sein, welches die Charakterologie behauptet, ist seiner einfachen oder mehrfachen Bedeutung nach von ihnen zu untersuchen. Warum diese Frage ganz allgemein gerade mit der Frage nach dem psychischen Unterschiede der Geschlechter so innig sich berührt, das wird freilich erst aus ihren letzten Resultaten hervorgehen.
II. Kapitel.
Männliche und weibliche Sexualität
»Die Frau verrät ihr Geheimnis nicht.«
»Mulier taceat de muliere.«
Unter Psychologie überhaupt ist gewöhnlich die Psychologie der Psychologen zu verstehen, und die Psychologen sind ausschließlich Männer: noch hat man, seit Menschen Geschichte aufzeichnen, nicht von einem weiblichen Psychologen gehört. Aus diesem Grunde bildet die Psychologie des Weibes ein Kapitel, welches der Allgemeinpsychologie nicht anders angehängt wird als die Psychologie des Kindes. Und da die Psychologie von Männern in regelmäßiger, aber wohl kaum bewußter ausschließlicher Berücksichtigung des Mannes geschrieben wird, ist die Allgemeinpsychologie Psychologie der »Männer« geworden, und wird das Problem einer Psychologie der Geschlechter immer dann erst aufgeworfen, wenn der Gedanke an eine Psychologie des Weibes auftaucht. So sagt Kant: »In der Anthropologie ist die weibliche Eigentümlichkeit mehr als die männliche ein Studium für den Philosophen.« Die Psychologie der Geschlechter wird sich immer decken mit der Psychologie von W.
Die Psychologie von W jedoch wird ebenfalls nur von Männern geschrieben. Man kann also mit Leichtigkeit sich auf den Standpunkt stellen, daß sie wirklich zu schreiben ein Ding der Unmöglichkeit sei, da sie Behauptungen über fremde Menschen aufstellen müsse, die keine Verifikation durch deren eigene Beobachtung ihrer selbst erhalten haben. Gesetzt, W könnte sich selbst je mit der erforderlichen Schärfe beschreiben, so ist damit noch nicht ausgemacht, ob sie den Dingen, die uns hauptsächlich interessieren, dasselbe Interesse entgegenbrächte; ja, und wenn sie selbst noch so genau sich erkennen könnte und wollte – setzen wir den Fall – so fragt sich's noch immer, ob sie je über sich zu reden zu bringen sein würde. Es wird sich im Laufe der Untersuchung herausstellen, daß diese drei Unwahrscheinlichkeiten auf eine gemeinsame Quelle in der Natur des Weibes zurückweisen.
Diese Untersuchung kann nur in dem Anspruch unternommen werden, daß jemand, ohne selbst Weib zu sein, über das Weib richtige Aussagen zu machen imstande sei. Es bleibt also jener erste Einwand einstweilen bestehen, und da seine Widerlegung erst viel später erfolgen kann, hilft es nichts, wir müssen uns über ihn hinwegsetzen. Nur so viel will ich bemerken. Noch hat nie – ist auch dies nur eine Folge der Unterdrückung durch den Mann? – beispielsweise eine schwangere Frau ihre Empfindungen und Gefühle irgendwie, sei es in einem Gedichte, sei es in Memoiren, sei es in einer gynäkologischen Abhandlung, zum Ausdruck gebracht; und Folge einer übergroßen Schamhaftigkeit kann das nicht sein, denn – Schopenhauer hat hierauf mit Recht hingewiesen – es gibt nichts, was einer schwangeren Frau so fern läge wie die Scham über ihren Zustand. Außerdem bestünde ja an sich die Möglichkeit, nach dem Ende der Schwangerschaft aus der Erinnerung über das psychische Leben zu jener Zeit zu beichten; wenn dennoch das Schamgefühl damals von Mitteilung zurückgehalten hätte, so entfiele ja nachher dieses Motiv, und das Interesse, das solchen Eröffnungen von vielen Seiten entgegengebracht würde, wäre für viele wohl sonst Grund genug, das Schweigen zu brechen. Aber nichts von alledem! Wie wir sonst nur Männern wirklich wertvolle Enthüllungen über die psychischen Vorgänge im Weibe danken, so haben auch hier bloß Männer die Empfindungen der schwangeren