Geschlecht und Charakter. Отто Вейнингер

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Geschlecht und Charakter - Отто Вейнингер

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Möglichkeiten wären reichlich vorhanden. Wenn trotzdem so wenige Malerinnen für eine Geschichte der Kunst ernsthaft in Betracht kommen, so dürfte es an den inneren Bedingungen gebrechen. Die weibliche Malerei und Kupferstecherei kann eben für die Frauen nur eine Art eleganterer, luxuriöser Handarbeit bedeuten. Dabei scheint ihnen das sinnliche, körperliche Element der Farbe eher erreichbar als das geistige, formale der Linie; und dies ist ohne Zweifel der Grund, daß zwar einige Malerinnen, aber noch keine Zeichnerin von Ansehen bekannt geworden ist. Die Fähigkeit, einem Chaos Form geben zu können, ist eben die Fähigkeit des Menschen, dem die allgemeinste Apperzeption das allgemeinste Gedächtnis verschafft, sie ist die Eigenschaft des männlichen Genies.

      Ich beklage es, daß ich mit diesem Worte »Genie«, »genial« immerfort operieren muß, welches, wie erst von einem bestimmten jährlichen Einkommen ab an den Staat eine gewisse Steuer zu zahlen ist, »die Genies« als eine bestimmte Kaste streng abgrenzt von jenen, die es gar nicht sein sollen. Die Bezeichnung »Genie« hat vielleicht gerade ein Mann erfunden, der sie selbst nur in recht geringem Maße verdiente; den größeren wird das »Genie-Sein« wohl zu selbstverständlich vorgekommen sein; sie werden wahrscheinlich lang genug gebraucht haben, um einzusehen, daß man überhaupt auch nicht »genial« sein könne. Wie denn Pascal außerordentlich treffend bemerkt: Je origineller ein Mensch sei, für desto origineller halte er auch die anderen; womit man Goethes Wort vergleiche: Vielleicht vermag nur der Genius den Genius ganz zu verstehen.

      Es gibt vielleicht nur sehr wenige Menschen, die gar nie in ihrem Leben »genial« gewesen sind. Wenn doch, so hat es ihnen vielleicht nur an der Gelegenheit gemangelt: an der großen Leidenschaft, an dem großen Schmerz. Sie hätten nur einmal etwas intensiv genug zu erleben brauchen – allerdings ist die Fähigkeit des Erlebens etwas zunächst subjektiv Bestimmtes – und sie wären damit, wenigstens vorübergehend, genial gewesen. Das Dichten während der ersten Liebe gehört z. B. ganz hieher. Und wahre Liebe ist völlig Zufallssache.

      Man darf schließlich auch nicht verkennen, daß ganz einfache Menschen in großer Erregung, im Zorn über irgend eine Niedertracht, Worte finden, die man ihnen nie zugetraut hätte. Der größte Teil dessen, was man gemeinhin »Ausdruck« nennt, in Kunst wie in prosaischer Rede, beruht aber (wenn man sich des früher über den Prozeß der Klärung Bemerkten erinnert) darauf, daß ein Individuum, das begabtere, Inhalte geklärt, gegliedert aufweist zu einer Zeit, wo das andere, minder hoch veranlagte, sie noch im Henidenstadium oder in einem sich nahe daranschließenden besitzt. Der Verlauf der Klärung wird durch den Ausdruck, welcher einem zweiten Menschen gelungen ist, ungemein abgekürzt, und daher das Lustvolle, auch wenn wir andere einen »guten Ausdruck« finden sehen. Erleben zwei ungleich Begabte dasselbe, so wird bei dem Begabteren die Intensität groß genug sein, daß etwa die »Sprechschwelle«19 erreicht wird. Im anderen aber wird der Klärungsprozeß hiedurch nur erleichtert.

      Wäre wirklich, wie die populäre Ansicht glaubt, das Genie vom nichtgenialen Menschen durch eine dicke Wand getrennt, die keinen Ton aus einem Reiche in das andere dringen ließe, so müßte jedes Verständnis der Leistungen des Genies dem nichtgenialen Menschen völlig verschlossen sein, und dessen Werke könnten auf ihn auch nicht den leisesten Eindruck hervorbringen. Alle Kulturhoffnungen vermögen demnach nur auf die Forderung sich zu gründen, daß dem nicht so sei. Und es ist auch nicht so. Der Unterschied liegt in der geringeren Intensität des Bewußtseins, er ist ein quantitativer, kein prinzipieller, qualitativer.20

      Umgekehrt aber hat es recht wenig Sinn, jüngeren Leuten die Äußerung einer Meinung darum zu verweisen und ihr Wort darum geringer zu werten, weil sie weniger Erfahrung hätten als ältere Personen. Es gibt Menschen, die wohl tausend Jahre und darüber leben könnten, ohne eine einzige Erfahrung gemacht zu haben. Nur unter Gleichbegabten hätte jene Rede einen guten Sinn und eine volle Berechtigung.

      Denn während der geniale Mensch schon als Kind ein intensiveres Leben führt als alle anderen Kinder, während ihm, je bedeutender er ist, an eine desto frühere Jugend auch ein Entsinnen möglich ist, ja in extremen Fällen schon vom dritten Jahre seiner Kindheit angefangen ihm die vollständige Erinnerung von seinem ganzen Leben stets gegenwärtig bleibt, datieren die anderen Menschen ihre erste Jugenderinnerung erst von einem viel späteren Zeitpunkt; ich kenne welche, deren früheste Reminiszenz überhaupt in ihr achtes Lebensjahr fällt, die von ihrem ganzen vorherigen Leben nichts wissen, als was ihnen erzählt wurde; und es gibt sicherlich viele, bei denen dieses erste intensive Erlebnis noch weit später anzusetzen ist. Ich will nicht behaupten und glaube es auch gar nicht, daß man die Begabungen zweier Menschen ganz ausnahmslos danach allein bereits gegeneinander abschätzen könne, wenn dieser vom fünften, jener erst vom zwölften Jahre an sich an alles erinnert, die früheste Jugenderinnerung des einen in den vierzehnten Monat nach seiner Geburt fällt, die des zweiten erst in sein drittes Lebensjahr. Aber im allgemeinen und außerhalb zu enger Grenzen wird man die angegebene Regel wohl immer zutreffen sehen.

      Vom Zeitpunkt der ersten Jugenderinnerung verfließt gewiß auch beim hervorragenden Menschen noch immer eine längere oder kürzere Strecke bis zu jenem Moment, von dem an er an alles sich erinnert, jenem Tage, von dem an er eben endgültig zum Genie geworden ist. Die meisten Menschen hingegen haben den größten Teil ihres Lebens einfach vergessen; ja viele wissen oft nur, daß kein anderer Mensch für sie gelebt hat die ganze Zeit hindurch: aus ihrem ganzen Leben sind ihnen nur bestimmte Augenblicke, einzelne feste Punkte, markante Stationen gegenwärtig. Wenn man sie sonst um etwas fragt, so wissen sie nur, d. h. sie rechnen es sich in der Geschwindigkeit aus, daß in dem und dem Monat sie so alt waren, diese oder jene Stellung bekleideten, da oder dort wohnten und so und so viel Einkommen hatten. Hat man vor Jahren zusammen mit ihnen etwas erlebt, so kann es nun unendliche Mühe kosten, das Vergangene in ihnen zur Auferstehung zu bringen. Man mag in solchem Falle einen Menschen mit Sicherheit für unbegabt erklären, man ist zumindest befugt, ihn nicht für hervorragend zu halten.

      Die Aufforderung zu einer Selbstbiographie brächte die ungeheuere Mehrzahl der Menschen in die peinlichste Verlegenheit: können doch schon die wenigsten Rede stehen, wenn man sie fragt, was sie gestern getan haben. Das Gedächtnis der meisten ist eben ein bloß sprungweises, gelegentlich assoziatives. Im genialen Menschen dauert ein Eindruck, den er empfangen hat; ja eigentlich steht nur er überhaupt unter Eindrücken. Damit hängt zusammen, daß wohl alle hervorragenden Menschen, wenigstens zeitweise, an fixen Ideen leiden. Der psychische Bestand der Menschen mit einem System von eng einander benachbarten Glocken verglichen, so gilt für den gewöhnlichen Menschen, daß jede nur klingt, wenn die andere an sie mit ihren Schwingungen stößt, und nur auf ein paar Augenblicke; für das Genie, daß eine einzige, angeschlagen, gewaltig ausschwingt, nicht leise tönt, sondern voll, das ganze System mitbewegt, und nachhallt, oft das ganze Leben lang. Da diese Art der Bewegung aber oft infolge gänzlich geringfügiger, ja lächerlicher Anstöße beginnt, und manchesmal gleich intensiv in unerträglicher Weise wochenlang zäh beharrt, so liegt hierin wirklich eine Analogie zum Wahnsinn.

      Aus verwandten Gründen ist auch Dankbarkeit so ziemlich die seltenste Tugend unter den Menschen; sie merken sich wohl manchesmal, wieviel man ihnen geliehen hat; aber in die Not, in der sie waren, in die Befreiung, die ihnen wurde, mögen und können sie sich nicht mehr zurückdenken. Führt Mangel an Gedächtnis sicher zum Undank, so genügt dennoch selbst ein vorzügliches Gedächtnis allein noch nicht, um einen Menschen dankbar zu machen. Dazu ist eine spezielle Bedingung mehr erforderlich, deren Erörterung nicht hieher gehört.

      Aus dem Zusammenhange von Begabung und Gedächtnis, der so oft verkannt und verleugnet worden ist, weil man ihn nicht dort suchte, wo er zu finden gewesen wäre: in der Rückerinnerung an das eigene Leben, läßt sich noch eine weitere Tatsache ableiten. Ein Dichter, der seine Sachen hat schreiben müssen, ohne Absicht, ohne Überlegung, ohne erst zur eigenen Stimmung das Pedal zu treten; ein Musiker, den der Moment des Komponierens überfallen hat, so daß er wider Willen zu schaffen genötigt war, sich nicht wehren konnte, selbst wenn er lieber Ruhe und Schlaf gewünscht hätte: ein solcher wird, was in diesen Stunden geboren wurde, all das, was nicht auch nur im kleinsten gemacht

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<p>19</p>

Ausdruck von Herrn Dr. H. Swoboda in Wien.

<p>20</p>

Sehr wesentlich ist hingegen der geniale Augenblick vom nichtgenialen psychologisch geschieden, auch in einem und demselben Menschen.