Geschlecht und Charakter. Отто Вейнингер

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Geschlecht und Charakter - Отто Вейнингер страница 30

Geschlecht und Charakter - Отто Вейнингер

Скачать книгу

wird sich aus der Darstellung allmählich ergeben. Für den Augenblick ist sicher, daß man sein tiefstes eigenstes Wesen nicht selbst verstehen kann. Und es gilt auch wirklich: man wird, wenn man überhaupt verstanden wird, immer nur von anderen, nie von sich selbst verstanden. Der andere nämlich, der mit dem ersten eine Ähnlichkeit hat und ihm in anderer Beziehung doch gar nicht gleich ist, dem kann diese Ähnlichkeit zum Gegenstande der Betrachtung werden, er kann sich im anderen, oder den anderen in sich erkennen, darstellen, verstehen. Einen Menschen verstehen heißt also: auch er sein.

      Der geniale Mensch aber offenbarte sich an jenen Beispielen eben als der Mensch, welcher ungleich mehr Wesen versteht als der mittelmäßige. Goethe soll von sich gesagt haben, es gebe kein Laster und kein Verbrechen, zu dem er nicht die Anlage in sich verspürt, das er nicht in irgend einem Zeitpunkte seines Lebens vollauf verstanden habe. Der geniale Mensch ist also komplizierter, zusammengesetzter, reicher; und ein Mensch ist um so genialer zu nennen, je mehr Menschen er in sich vereinigt, und zwar, wie hinzugefügt werden muß, je lebendiger, mit je größerer Intensität er die anderen Menschen in sich hat. Wenn das Verständnis des Nebenmenschen nur wie ein schwaches Stümpchen in ihm brennte, dann wäre er nicht imstande, als großer Dichter in seinen Helden das Leben einer mächtigen Flamme gleich zu entzünden, seine Figuren wären ohne Mark und Kraft. Das Ideal gerade von einem künstlerischen Genius ist es, in allen Menschen zu leben, an alle sich zu verlieren, in die Vielheit zu emanieren; indes der Philosoph alle anderen in sich wiederfinden, sie zu einer Einheit, die eben immer nur seine Einheit sein wird, zu resorbieren die Aufgabe hat.

      Diese Proteus-Natur des Genies ist, ebensowenig wie früher die Bisexualität, als Simultaneität aufzufassen; auch dem größten Genius ist es nicht gegeben, zu gleicher Zeit, etwa an einem und demselben Tage, das Wesen aller Menschen zu verstehen. Die umfassendere und inhaltsvollere Anlage, welche ein Mensch geistig besitzt, kann nur nach und nach, in allmählicher Entfaltung seines ganzen Wesens sich offenbaren. Es hat den Anschein, daß auch sie in einem bestimmten Ablauf gesetzmäßiger Perioden zum Vorschein kommt. Diese Perioden wiederholen sich aber im Laufe des Lebens nicht in der gleichen Weise, als wäre jede nur die gewöhnliche Wiederholung der vorhergegangenen, sondern sozusagen in immer höherer Sphäre; es gibt nicht zwei Momente des individuellen Lebens, die einander ganz gleichen; und es existiert zwischen den späteren und den früheren Perioden nur die Ähnlichkeit der Punkte der höheren mit den homologen der niederen Spiralwindung. Daher kommt es, daß hervorragende Menschen so oft in ihrer Jugend den Plan zu einem Werke fassen, nach langer Pause im Mannesalter das Jahre hindurch nicht vorgenommene Konzept einer Bearbeitung unterziehen und erst im Greisenalter nach abermaligem Zurückstellen es vollenden: es sind die verschiedenen Perioden, in die sie abwechselnd treten und die sie stets mit anderen Gegenständen erfüllen. Diese Perioden existieren bei jedem Menschen, nur in verschiedener Stärke, mit verschiedener »Amplitüde«. Da das Genie die meisten Menschen mit der größten Lebendigkeit in sich hat, wird die Amplitüde der Perioden um so ausgesprochener sein, je bedeutender ein Mensch in geistiger Beziehung ist. Hochstehende Menschen hören daher meist von Jugend auf von Seiten ihrer Erzieher den Vorwurf, daß sie fortwährend »von einem Extrem ins andere« fielen. Als ob sie sich dabei besonders wohl befinden würden! Gerade beim hervorragenden Menschen nehmen solche Übergänge in der Regel einen ausgesprochen krisenhaften Charakter an. Goethe hat einmal von der »wiederholten Pubertät« der Künstler gesprochen. Was er gemeint hat, hängt innig mit diesem Gegenstande zusammen. Denn gerade die starke Periodizität des Genies bringt es mit sich, daß bei ihm immer erst auf sterile Jahre die fruchtbaren und auf sehr produktive Zeiten immer wieder sehr unfruchtbare folgen – Zeiten, in denen er von sich nichts hält, ja von sich psychologisch (nicht logisch) weniger hält als von jedem anderen Menschen: quält ihn doch die Erinnerung an die Schaffensperiode, und vor allem – wie frei sieht er sie, die von solchen Erinnerungen nicht Belästigten, herumgehen! Wie seine Ekstasen gewaltiger sind als die der anderen, so sind auch seine Depressionen fürchterlicher. Bei jedem hervorragenden Menschen gibt es solche Zeiten, kürzere und längere; Zeiten, wo er in völliger Verzweiflung an sich selbst sein, wo es bei ihm zu Selbstmordgedanken kommen kann, Zeiten, wo zwar auch eine Menge Dinge ihm auffallen können, und vor allem eine Menge Dinge sich ansetzen werden für eine spätere Ernte; wo aber nichts mit dem gewaltigen Tonus der produktiven Periode erscheint, wo, mit anderen Worten, der Sturm sich nicht einstellt; Zeiten, in denen wohl über solche, die trotzdem fortzuschaffen versuchen, gesagt wird: »Wie der jetzt herunterkommt!« »Wie der sich völlig ausgegeben hat!« »Wie der sich selbst kopiert!« etc. etc.

      Auch seine anderen Eigenschaften, nicht bloß ob er überhaupt, sondern auch der Stoff, in welchem, der Geist, aus welchem heraus er produziert, sind im genialen Menschen einem Wechsel und einer starken Periodizität unterworfen. Er ist das eine Mal eher reflektierend und wissenschaftlich, das andere Mal mehr zu künstlerischer Darstellung disponiert (Goethe); zuerst konzentriert sich sein Interesse auf die menschliche Kultur und Geschichte, dann wieder auf die Natur (man halte Nietzsches »Unzeitgemäße Betrachtungen« neben seinen »Zarathustra«); er ist jetzt mystisch, nachher naiv (solche Beispiele haben in jüngster Zeit Björnson und Maurice Maeterlinck gegeben). Ja, so groß ist im hervorragenden Menschen die »Amplitüde« der Perioden, in denen die verschiedenen Seiten seines Wesens, die vielen Menschen, die in ihm intensiv leben, aufeinander succedieren, daß diese Periodizität auch physiognomisch sich deutlich offenbart. Hieraus möchte ich die auffallende Erscheinung erklären, daß bei begabteren Menschen der Ausdruck des Antlitzes viel öfter wechselt als bei Unbegabten, ja daß sie zu verschiedenen Zeiten oft unglaublich verschiedene Gesichter haben können; man vergleiche nur die von Goethe, von Beethoven, von Kant, von Schopenhauer aus den verschiedenen Epochen ihres Lebens erhaltenen Bilder! Man kann die Zahl der Gesichter, die ein Mensch hat, geradezu als ein physiognomisches Kriterium seiner Begabung ansehen. Menschen, die stets ein und dasselbe Gesicht völlig unverändert aufweisen, stehen auch intellektuell sehr tief. Hingegen wird es den Physiognomiker nicht wundern, daß begabtere Menschen, die auch im Verkehr und Gespräch immer neue Seiten ihres Wesens offenbaren, über die darum das Nachdenken nicht so bald ein fertiges Urteil gewinnt, diese Eigenschaft auch durch ihr Aussehen bewahrheiten.

      Man wird vielleicht mit Entrüstung die hier entwickelte vorläufige Vorstellung vom Genie zurückweisen, weil sie als notwendig postuliere, daß ein Shakespeare auch die ganze Gemeinheit eines Falstaff, die ganze Schurkenhaftigkeit eines Jago, die ganze Rohheit eines Caliban in sich gehabt habe, somit die großen Menschen moralisch erniedrige, indem sie ihnen das intimste Verständnis auch für alles Verächtliche und Unbedeutende imputiere. Und es muß zugegeben werden, daß nach dieser Auffassung die genialen Menschen von den zahlreichsten und heftigsten Leidenschaften erfüllt und selbst von den widerlichsten Trieben nicht verschont sind (was übrigens durch ihre Biographien überall bestätigt wird).

      Aber jener Einwurf ist trotzdem unberechtigt. Dies wird aus der späteren Vertiefung des Problems noch hervorgehen; einstweilen sei darauf hingewiesen, daß nur eine oberflächliche Schlußweise ihn als die notwendige Folgerung aus den bis jetzt dargelegten Prämissen betrachten kann, die vielmehr allein schon sein Gegenteil mehr als wahrscheinlich zu machen genügen. Zola, der den Impuls zum Lustmord so gut kennt, hätte trotzdem nie einen Lustmord begangen, und zwar darum, weil in ihm selber eben so viel anderes noch ist. Der wirkliche Lustmörder ist die Beute seines Antriebes; in seinem Dichter wirkt der ganze Reichtum seiner vielfältigen Anlage dem Reize entgegen. Er bewirkt, daß Zola den Lustmörder viel besser als jeder wirkliche Lustmörder sich selbst kennen, daß er aber eben damit ihn erkennen wird, wenn die Versuchung wirklich an ihn herantreten sollte; und damit steht er ihr bereits gegenüber, Aug' in Auge, und kann sich ihrer erwehren. Auf diese Weise wird der verbrecherische Trieb im großen Menschen vergeistigt, zum Künstlermotiv wie bei Zola, oder zur philosophischen Konzeption des »Radikal-Bösen« wie bei Kant, darum führt er ihn nicht zur verbrecherischen Tat.

      Aus der Fülle von Möglichkeiten, die in jedem bedeutenden Menschen vorhanden sind, ergeben sich nun wichtige Konsequenzen, welche zur Theorie der Heniden, wie sie im vorigen Kapitel entwickelt wurde, zurückleiten. Was man in sich hat, bemerkt man eher, als was man nicht versteht (wäre dem anders, so gäb' es keine Möglichkeit, daß die Menschen miteinander verkehren könnten – sie wissen meistens gar nicht, wie oft

Скачать книгу