Geschlecht und Charakter. Отто Вейнингер

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Geschlecht und Charakter - Отто Вейнингер

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acceptiert, für die Inhalte in jenem Stadium, wo eine solche Zweiheit an ihnen noch nicht unterscheidbar ist, einen eigenen Namen einzuführen haben. Es sei, ohne alle über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehenden Ansprüche, für psychische Data auf jenem primitivsten Zustande ihrer Kindheit das Wort »Henide« vorgeschlagen (von ἕν, weil sie noch nicht Empfindung und Gefühl als zwei für die Abstraktion isolierbare analytische Momente, noch keinerlei Zweiheit erkennen lassen).

      Die absolute Henide ist hiebei nur als ein Grenzbegriff zu betrachten. Wie oft wirkliche psychische Erlebnisse im erwachsenen Alter des Menschen einen Grad von Undifferenziertheit erreichen, der ihnen diesen Namen mit Recht eintrüge, läßt sich so rasch nicht mit Sicherheit ausmachen; aber die Theorie an sich wird hiedurch nicht berührt. Eine Henide wird es im allgemeinen genannt werden dürfen, was, bei verschiedenen Menschen verschieden häufig, im Gespräche zu passieren pflegt: man hat ein ganz bestimmtes Gefühl, wollte eben etwas ganz Bestimmtes sagen; da bemerkt z. B. der andere etwas, und »es« ist nun weg, nicht mehr zu erhaschen. Später wird aber durch eine Assoziation plötzlich etwas reproduziert, von dem man sofort ganz genau weiß, daß es dasselbe ist, was man früher nicht beim Zipfel fassen konnte: ein Beweis, daß es derselbe Inhalt war, nur in anderer Form, auf einem anderen Stadium der Entwicklung. Die Klärung erfolgt also nicht nur im Laufe des ganzen individuellen Lebens nach dieser Richtung hin, sie muß auch für jeden Inhalt wieder von neuem durchgemacht werden.

      Ich besorge, daß jemand eine nähere Beschreibung dessen verlangen möchte, was ich mit der Henide eigentlich meine. Wie sehe eine Henide aus? Das wäre ein völliges Mißverständnis. Es liegt im Begriffe der Henide, daß sie sich nicht näher beschreiben läßt, als ein dumpfes Eines; daß später die Identifikation mit dem völlig artikulierten Inhalte erfolgt, ist ebenso sicher, wie daß die Henide dieser artikulierte Inhalt selbst noch nicht ganz ist, sich von ihm irgendwie, durch den Grad der Bewußtheit, durch den Mangel an Reliefierung, durch das Verschmolzensein von Folie und Hauptsache, durch den Mangel eines »Blickpunktes« im »Blickfelde« unterscheidet.

      Also einzelne Heniden kann man nicht beobachten und nicht beschreiben: man kann nur Kenntnis nehmen von ihrem Dagewesensein.

      Es läßt sich übrigens prinzipiell in Heniden genau so gut denken, leben wie in Elementen und Charakteren; jede Henide ist ein Individuum und unterscheidet sich sehr wohl von jeder anderen. Aus später zu erörternden Gründen ist anzunehmen, daß die Erlebnisse der ersten Kindheit (und zwar dürfte dies für die ersten 14 Monate ausnahmslos für das Leben aller Menschen zutreffen) Heniden sind, wenn auch vielleicht nicht in der absoluten Bedeutung. Doch rücken die psychischen Geschehnisse der ersten Kindheit wenigstens nie weit aus der Nähe des Henidenstadiums heraus; für den Erwachsenen indessen gibt es stets eine Entwicklung vieler Inhalte über jene Stufe empor. Dagegen ist in der Henide offenbar die Form des Empfindungslebens der niedersten Bionten, und vielleicht sehr vieler Pflanzen und Tiere zu sehen. Von der Henide ist dem Menschen die Entwicklung nach einem vollständig differenzierten, plastischen Empfinden und Denken hin möglich, wenn auch dieses nur ein nie ganz ihm erreichbares Ideal darstellt. Während die absolute Henide die Sprache überhaupt noch nicht gestattet, indem die Gliederung der Rede nur aus der des Gedankens folgt, gibt es auch auf der höchsten dem Menschen möglichen Stufe des Intellektes noch Unklares und darum Unaussprechliches.

      Im ganzen also will die Henidentheorie den zwischen Empfindung und Gefühl um die Würde des höheren Alters geführten Streit schlichten helfen, und an Stelle der von Avenarius und Petzoldt aus der Mitte des Klärungsverlaufes herausgegriffenen Notionen »Element« und »Charakter« eine entwicklungsgeschichtliche Beschreibung des Sachverhaltes versuchen: auf Grund der fundamentalen Beobachtung, daß erst mit dem Heraustreten der »Elemente« diese von den »Charakteren« unterscheidbar werden. Darum ist man zu »Stimmungen« und zu allen »Sentimentalitäten« nur disponiert, wenn die Dinge sich nicht in scharfen Konturen darstellen, und ihnen eher ausgesetzt in der Nacht als am Tage. Wenn die Nacht dem Lichte weicht, wird auch die Denkart der Menschen eine andere.

      In welcher Beziehung steht nun aber diese Untersuchung zur Psychologie der Geschlechter? Wie unterscheiden sich – denn offenbar wurde zu solchem Zwecke diese längere Grundlegung gewagt – M und W mit Rücksicht auf die verschiedenen Stadien der Klärung?

      Darauf ist folgende Antwort zu geben:

      Der Mann hat die gleichen psychischen Inhalte wie das Weib in artikulierterer Form; wo sie mehr oder minder in Heniden denkt, dort denkt er bereits in klaren, distinkten Vorstellungen, an die sich ausgesprochene und stets die Absonderung von den Dingen gestattende Gefühle knüpfen. Bei W sind »Denken« und »Fühlen« eins, ungeschieden, für M sind sie auseinanderzuhalten. W hat also viele Erlebnisse noch in Henidenform, wenn bei M längst Klärung eingetreten ist.15 Darum ist W sentimental, und kennt das Weib nur die Rührung, nicht die Erschütterung.

      Der größeren Artikulation der psychischen Data im Manne entspricht auch die größere Schärfe seines Körperbaues und seiner Gesichtszüge gegenüber der Weichheit, Rundung, Unentschiedenheit in der echten weiblichen Gestalt und Physiognomie. Ferner stimmen mit dieser Anschauung die Ergebnisse der die Geschlechter vergleichenden Sensibilitätsmessungen überein, die, entgegen der populären Meinung, bei den Männern eine durchgängig größere Sinnesempfindlichkeit schon am Durchschnitt ergeben haben und solche Differenzen sicherlich in noch viel höherem Maße hätten hervortreten lassen, wenn die Typen in Betracht gezogen worden wären. Die einzige Ausnahme bildet der Tastsinn: die taktile Empfindlichkeit der Frauen ist feiner als die der Männer. Das Faktum ist interessant genug, um zur Auslegung aufzufordern, und eine solche wird auch später versucht werden. Zu bemerken ist hier noch, daß hingegen die Schmerzsensibilität des Mannes eine unvergleichlich größere ist als die der Frau, was für die physiologischen Untersuchungen über den »Schmerzsinn« und seine Scheidung vom »Hautsinn« von Wichtigkeit ist.

      Schwache Sensibilität wird das Verbleiben der Inhalte in der Nähe des Henidenstadiums sicherlich begünstigen; geringere Klärung kann aber nicht als ihre unbedingte Folge dargetan werden, sondern läßt sich mit ihr nur in einen sehr wahrscheinlichen Zusammenhang bringen. Ein zuverlässigerer Beweis für die geringere Artikulation des weiblichen Vorstellens liegt in der größeren Entschiedenheit im Urteil des Mannes, ohne daß diese allein aus der geringeren Distinktheit des Denkens beim Weibe sich schon völlig ableiten ließe (vielleicht weisen beide auf eine gemeinsame tiefere Wurzel zurück). Doch ist wenigstens dies eine sicher, daß wir, so lange wir dem Henidenstadium nahe sind, meist nur genau wissen, wie sich eine Sache nicht verhält, und das wissen wir immer schon lange, bevor wir wissen, wie sie sich verhält: hierauf, auf einem Besitzen von Inhalten in Henidenform, beruht wohl auch das, was Mach »instinktive Erfahrung« nennt. Nahe dem Henidenstadium reden wir noch immer um die Sache herum, korrigieren uns bei jedem Versuche sie zu bezeichnen und sagen: »Das ist auch noch nicht das richtige Wort.« Damit ist naturgemäß Unsicherheit im Urteilen von selbst gegeben. Erst mit vollendeter Klärung wird auch unser Urteil bestimmt und sicher; der Urteilsakt selbst setzt eine gewisse Entfernung vom Henidenstadium voraus, selbst wenn durch ihn ein analytisches Urteil, das den geistigen Besitzstand des Menschen nicht vermehrt, ausgesprochen werden soll.

      Der entscheidende Beweis aber für die Richtigkeit der Anschauung, welche die Henide W, den differenzierten Inhalt M zuschreibt und hier einen fundamentalen Gegensatz beider erblickt, liegt darin, daß, wo immer ein neues Urteil zu fällen und nicht ein schon lange fertiges einmal mehr in Satzform auszusprechen ist, daß in solchem Falle stets W von M die Klärung ihrer dunklen Vorstellungen, die Deutung der Heniden erwartet. Es wird die in der Rede des Mannes sichtbar werdende Gliederung seiner Gedanken dort, wo die Frau ohne helle Bewußtheit vorgestellt hat, als ein (tertiärer) männlicher Geschlechtscharakter von ihr geradezu erwartet, gewünscht und beansprucht, und wirkt auf sie wie ein solcher. Hierauf bezieht es sich, wenn so viele Mädchen sagen, sie wünschten nur einen solchen Mann zu heiraten, oder könnten zumindest nur jenen Mann lieben, der gescheiter sei als sie; daß es sie befremden, ja sexuell abstoßen kann, wenn der Mann dem, was sie sagen, einfach recht gibt und es nicht gleich besser sagt als sie; kurz

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<p>15</p>

Wobei weder an absolute Heniden beim Weibe noch an absolute Klärung beim Manne gedacht werden darf.