Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis. Max Bernhard Weinstein

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Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis - Max Bernhard Weinstein

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eine Nacht bei ihm. Wilde verlängern die Zeit beliebig. Damit die Seele nicht herauskomme, werden dem Toten alle körperlichen Öffnungen verstopft, oder es werden die Teile, in denen man die Seele vermutet, wie Hirn, Herz und namentlich Niere herausgenommen und vernichtet, oder als „Medizin“, als Zaubermittel gegen Unfälle und für Stärkung der eigenen Kräfte verwendet. Namentlich Feinden gegenüber, wie Raubtieren und menschlichen Feinden, wird so verfahren, wenn die Feinde nicht ganz aufgezehrt werden, um ihre Seele in sich aufzunehmen. Der Drang nach solcher Medizin ist so groß, daß, wo der Glaube herrscht, die Seele gehe mit der Leichenflüssigkeit ab, selbst dieser widerliche Saft getrunken wird. Frobenius, der davon als vom Fananybrauch spricht, teilt mehrere Beispiele aus Afrika und Polynesien mit. Nicht selten führt der Glaube zu gemeinen Mordtaten, und der Mörder hat nur den Wunsch, etwa die Niere des Getöteten zu verschlingen; er hat dann zwei Seelen, ist also kräftiger und darf auf längeres Leben hoffen. Auch der Glaube scheint zu bestehen, daß man die Seele verhindern kann, mit dem Toten zurück ans Tageslicht zu kehren, wenn man der Leiche Hände und Füße bindet. Der Brauch scheint uralt zu sein, denn auch in prähistorischen Gräbern Europas hat man Skelette mit Fesseln an Händen und Füßen gefunden. Wie sehr die Körperlichkeit der Seele ein Grundgedanke des Naturmenschen ist, ergibt auch die Ansicht, daß die Seele in der Form ganz dem Körper folgt. Fehlt einem Menschen ein Glied, so besitzt auch die Seele dieses Glied nicht. Daher schneiden Wilde den Toten den Daumen der rechten Hand ab, damit die Seele nicht nach ihnen ihre Geschosse schleudern kann. Es wird erzählt, daß, als auf einer Plantage viele Neger Selbstmord begingen, um im Jenseits als freie Seelen zu leben, der Besitzer zuletzt den Leichen Hände und Füße abschlagen ließ. Das wirkte: die Neger fürchteten nun, ihr jenseitiges Dasein so verstümmelt verbringen zu müssen. Daher die Vernichtung der Seele durch absolute Zerstückelung oder besser durch Verbrennen des Körpers (S. 71). Die Seele krankt und altert sogar mit dem Körper, und darum fürchten so manche Wilde bei Siechtum oder Alterschwäche, im Jenseits nicht mehr imstande zu sein, von den dort gebotenen Freuden hinreichend genießen zu können. Daraus hat man die grausame Sitte so mancher Naturvölker erklären wollen, die Alten und Siechen zu töten; man will sie dem Jenseits noch in einiger Kraft erhalten. Eine Sitte, die auch bei Germanen, Kelten und Slawen sich nachweisen läßt.

      Eine Seele kann auch Ummauerungen nicht durchdringen. Daher muß, wo der Körper von einem Grabhügel umschlossen ist, an diesem Hügel ein Loch zu ihm gelassen werden, damit Speise und Trank der Seele zugeführt werden können; die neben das Grab getane würde die Seele nicht erreichen.

      10. Schamanismus, Totemismus, Seelen-, Ahnenkult

      Da die Seele eine gewisse Freiheit vom Körper genießt, so kann sie sich mitunter aus diesem auch bei Lebzeiten entfernen. Und so glaubt der Naturmensch, daß Gestalten, die er im Träumen sieht, entweder Seelen dieser sind, die sich von ihnen gelöst haben und nun zu seiner Seele gekommen sind, oder daß seine Seele aus seinem Körper gegangen ist und jene Seelen aufgesucht hat. Dabei bieten die leblosen Gegenstände keine Schwierigkeit, denn diese werden ja auch beseelt gedacht. Es kann nicht meine Absicht sein, das unheimliche Kapitel der Träume zu behandeln; ich habe nur das hervorzuheben, was für die Anschauung von Bedeutung ist. Wie sehr es in der Natur des Menschen liegt, sich mit seinen Träumen zu plagen, kann selbst der Vorurteilsfreieste an sich gewahren. Und alle Aufklärungen der Physiologen und Biologen nützen nur wenig dem, der von einem bösen Traum betroffen ist; er liegt ihm den Tag über in allen Gliedern; der Träumer ist froh, wenn dieser Tag vorüber, da seltsamerweise im allgemeinen der Wert eines Traumes auf die Zeit zwischen Nacht und Nacht beschränkt wird. Nicht wenige Ethnologen und Anthropologen sind geneigt, die Seelen- und Religionsanschauungen überhaupt aus den Traumerscheinungen abzuleiten. Indessen träumen auch Tiere. Etwas Besonderes muß also beim Menschen wohl hinzukommen, ihm die Reflexion oder den Einfall aus jenen Anschauungen zu erwecken. Manchen Menschen wird die Fähigkeit zugeschrieben, ihre Seele nach gewissen Vorbereitungen, die meist auf Hervorrufung einer Ekstase oder dumpfen Betäubung abzielen, beliebig aus ihrem Körper nach bestimmten Orten hinauszusenden, um dort Erkundigungen über Diebstähle, Feindespläne, Heilmittel, Schicksale von Menschen und Tieren einzuziehen. Der betreffende Mensch liegt gleich einem Toten, seine Seele geht inzwischen, wohin er sie entsandt hat. Nachdem sie das Gewünschte erfahren, kehrt sie in ihn zurück, er erwacht und weiß nun alles. Unzählig sind die Mitteilungen von solchen Seelenentsendungen und den wunderbaren Erfolgen, namentlich bei den Völkern Nordasiens, Nordeuropas und Nordamerikas, und auch Afrikas. Und manche davon sind so auffallend, daß sie selbst unter gebildeten Reisenden Glauben gefunden haben. Die Leute mit solcher Macht über ihre Seele gehören meist zur Klasse der Priester und Zauberer, oder, wie wir sie gemeinhin heißen, weil sie auch Krankheiten heilen und für alle möglichen Fälle Mittel besitzen und verabreichen, „Medizinmänner“. Bei den verschiedenen Völkern führen sie verschiedene Namen. Der bekannteste ist der der Schamanen (aus dem indischen Çramana), und in Verbindung mit gewissen Geisterkulten sprechen wir von Schamanismus als einer Religionsäußerung.

Solche Ansichten kennen auch die arischen Völker. Odhin soll mitunter schlafen und dabei soll seine Seele als Vogel, Fisch oder Schlange die Welt durchstreifen, um dem Herrn, was sie erkundet, mitzuteilen. Eine seltsame Erzählung hat uns der Geschichtschreiber der Langobarden, Paulus Diaconus, aufbewahrt, die ich nach Jakob Grimm (Deutsche Mythologie) wiedergebe. „König Gunthram (der bekannte Frankenkönig) war im Wald ermüdet auf dem Schoß eines treuen Dieners entschlafen. Da sieht der Diener aus des Herrn Munde ein Tierlein, gleich einer Schlange, laufen und auf einen Bach zugehen, den es nicht überschreiten kann. Jener legt sein Schwert über das Wasser, das Tier läuft darüber hin, und jenseits in einen Berg. Nach einiger Zeit kehrt es auf demselben Wege in den Schlafenden zurück, der bald erwacht und erzählt, wie er im Traum über eine eiserne Brücke in einen mit Gold erfüllten Berg gegangen sei.“ Schlangen gehören zu den auf der ganzen Erde verbreiteten Bildern und Verkörperlichungen der Seele. Die Schlange also war König Gunthrams Seele. Paulus Diaconus teilt übrigens noch mit, daß man an der betreffenden Stelle nachgegraben und in der Tat viel verstecktes Gold gefunden habe. Die Seele hat also das Richtige ermittelt. Von dem Gold ließ der König einen Kelch machen, den er dem heiligen Marcellus in seiner Residenz Châlons widmete, wo der König selbst begraben wurde.

      Auch fremde Seelen vermag der Kundige zu senden, wohin er will. Die Könige von Dahome, so oft sie den Rat eines Gottes einholen wollten, töteten einen Menschen, dessen Seele zum Gott ziehen und von ihm das Nötige in Erfahrung bringen sollte, um es dem Zauberer dann zu offenbaren. Ähnliches erzählt bekanntlich Herodot von den thrakischen Goten: „Alle fünf Jahre wählen sie einen von ihnen durch das Los, den schicken sie als Boten an Zalmoxis und tragen ihm ihr jedesmaliges Anliegen auf.“ Die Entsendung geschieht, indem drei Leute Wurfspieße halten und der zu Sendende hochgeworfen wird, daß er auf die Spieße fällt. Ist er gleich tot, so wird das als gnädiges Zeichen des Gottes betrachtet, sonst wird ein anderer Bote in gleicher Weise entsandt. Herodot fügt hinzu: „Sie geben ihm aber den Auftrag, wenn er noch lebt“. So gleichen sich Anschauungen in voneinander so fernen Landen und so weit abstehenden Zeiten, zum Beweise wie gleichartig die Menschen denken, schließen und handeln!

      Die Anerkennung der Obergewalt mancher Menschen über sich führt dazu, daß deren Seelen besonders hoch bewertet werden. An den Seelenglauben knüpft sich so der Ahnenglaube als das Natürliche und der Übergeordnetenglaube als das oft Aufgezwungene. Den Ahnenglauben finden wir fast auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten verbreitet. Vielleicht mangelt er selbst denjenigen Völkern nicht, die ihre alten Väter und Mütter aussetzen oder gar töten. Es liegt ja nahe, daß der Ernährer der Familie eine eigene Stellung einnimmt und seine Seele besonders geachtet wird. Offenbar wird sie besonders geneigt sein, den Zurückgebliebenen die gleichen und mehr Wohltaten zu erweisen wie im Leben. Da der Wilde absoluter Realist ist, sucht er sich ihre Zuneigung zu wahren. Und dieses hat zu einem eigenartigen Seelen– und Ahnenkultus geführt, der sich überall vorfindet und, wie zu anmutenden Gebräuchen, so auf der Wildenstufe zu den schändlichsten Grausamkeiten geführt hat, die in den merkwürdigsten Formen vertreten sind. Alles dieses steigert sich ins Ungemessene, wenn es sich um die Seele eines mächtigen Zauberers oder eines Häuptlings handelt, so daß hier deren Tod ein wahrer Jammer in des

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