Vineta. Oskar Loerke
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Wie eine schenkende Stellung zu einem Menschen so kostbar in Hermine zu sein schien, verwahrte sie sich gegen andere durch Verschmähen und heftete ihre Abneigung am festesten an die, welche sie am wenigsten lieben konnte. Wenn ihre Mutter schon fühlte, daß sie sich hinzugeben fürchtete, so blieb Hermine ihr gegenüber doch ruhig, wogegen es sie in Gegenwart Dagotts oder Karps wie eine Ahnung durchzitterte, daß sie sich behüten müßte, und ihr Tasten ruhte nicht, bis sie an ihnen etwas zum Abweisen, Fürchten, Verachten fand. Doch geschah das jenseits aller Gedanken, und sie blieb freundlich, wenn sie sich etwa über eine Grimasse Dagotts erregte: sie hatte ja Elisabeth und empfand eine gewisse Schadenfreude, als wüßte sie, daß ein Licht um so heller strahlt, je tiefer ringsum die Nacht ist. Der manchmal arg hervortretende Ehezwist ihrer Eltern, ein heftiger Wortwechsel, ein Schweigen zwischen Mann und Frau brachte auch ihr Unbehagen, aber sie trug es gleichgiltig.
Karp lernte sie wenig kennen. Sein Unterricht war sachlich, aber langweilig. So berührte sie zunächst die Eintönigkeit seiner Lehrweise. Sonst war er schweigsam. Immer schien er wehmütig, und doch lächelte er fast immer. Dieser Zwiespalt pflegte eine gewissermaßen zärtliche Abneigung groß. Hermine glaubte ihn krank. „Sieh, Elisabeth,“ sagte sie, „sieh seine Handgelenke. Lauter blaue Adern schimmern dort durch. Ein Tagelöhner auf dem Lande hat mir erzählt, in blauen Adern fließt krankes Blut. Auch an den Schläfen sitzen ihm bläuliche Ästchen. Ich fühle, seine Krankheit tut ihm weh, aber doch ist er dick und lacht.“ Mit mitleidigem Unbehagen krochen ihre Blicke unter seine Manschetten. Sie ließ sich nicht gern von dem kranken Manne unterrichten und, weil Elisabeth dabei war, doch wieder gern.
Außerdem knüpften sich an ihn leicht Empfindungen, die ihr die Leute außerhalb des Hauses gleichgiltig machten. Mit den Erwachsenen hatte sie ohnehin vorderhand nichts zu schaffen, und die Schulkinder, mit denen sie beim Konfirmandenunterricht in demselben Saale saß, gehörten Karps Schule an. Das leise Widerstreben gegen diesen regte sich bei ihrem Anblick als willkommene Verstärkung des Nachlebens jener abendlichen Ankunft, so daß sie noch immer mit einer sonderlichen Art Menschen leben zu müssen wähnte: der singende Greis, die schreienden Buben zeigten sich manchmal in wollustvollen Seelentiefen, ebenso der Totengräber Grelert.
Dieser letztere mußte auch wohl dazu dienen, der Stadt selbst einige der Schauer wiederzugeben, die sie im Schneeflockenmantel unheimlich belebt hatten. Er war abends noch immer auf dem Dache zu sehen, wie er mit der Laterne nach seinem Taubenschlage lief. Hermine konnte ihn aus einem Fenster ihres großen Zimmers beobachten. Auch hörte sie beim Unterricht, schon abgespannt oder durch die Gegenwart Karps im Lebensgefühl beschränkt, seine Tauben die Flügel schlagen, ähnlich, als schlüge jemand dünne Bretter oder gar Totengebeine aufeinander.
Ihr eigenes Zimmer, mit solcherlei Empfindungen betrachtet, empfing so sein verborgen wirkendes Geheimnis.
Die Pappeln aber umwob in Bälde der größte Reiz. Grelert, in jüngeren Jahren Glöckner, hatte seiner Tochter, die ihm durch Unvorsichtigkeit hoch im Kirchturm von den geläuteten Glocken erschlagen worden war, eine Pappel als Denkmal ans Grab gepflanzt und ließ sich durch sie an den Unglücksturm erinnern. Daran mußte Hermine oft denken und wurde von Winden oder Vögeln oder den Lichtverwandlungen, von Winter und Sommer, von Nebel und Nacht in den hohen Stämmen auf die verschiedenste Weise gerührt, manchmal zu wehen Träumen, manchmal selbst zu wehen Tränen. In seltsam geformten Zweigen fand sie Tier- und Spukgestalten gebildet und erschrak eines Abends tief über den Erlkönig: sie und Elisabeth begehrten auch solche Denkmale ans Grab, wenn sie stürben.
So half der Totengräber den ersten geisterhaften Eindruck der Stadt in ihr wieder mehr und mehr heben. Darum und weil er ihr oftmals auffällig nachblickte, war ein unheimliches Sehnen in ihr, ihn kennen zu lernen. Er war unter den Leuten als Sonderling berufen. Niemand kannte ihn recht, da er zurückgezogen lebte und, soviele freie Zeit er erübrigte, mit Stuhlflechten und Topfbestricken außerhalb einen Spargroschen erwarb. Es sollte in seinem Leben etwas Dunkles geben. Dagott wußte darüber nichts, gab aber vor unterrichtet zu sein und es Hermine nur nicht verraten zu wollen. Er war plump, so daß Hermine ihn durchschaute, drob mehr verachtete und Grelert mehr lieb gewann. Mit Elisabeth spann sie düster bunte Sagen über ihn aus. Sie wollte hingehen.
Er hauste ganz allein in seiner Kate am Kirchhof. Dadurch hatte er wieder etwas Abschreckendes. Er sollte häufig noch tief in der Nacht durch seine Klause rumoren und den Fußboden scheuern, denn man sagte ihm peinliche Sauberkeit nach. Man hatte ihn auch so spät noch hämmern hören und behauptete, er ziehe beim Reinigen der Wohnung sämtliche Nägel aus der Wand, putze sie blitzblank und klopfe sie dann wieder in ihre Löcher.
Während Hermine überlegte, unter welchem Vorwande sie den Totengräber aufsuchen könnte, wurde ihr eine Schwester geboren, und das Vorhaben unterblieb. Dagott belegte das Kind mit einem biblischen Namen, weil diese Sitte in seiner Familie seit Urzeiten üblich sei. Er nannte das kleine Mädchen Ruth. Fünf Wochen verstrichen Hermine in staunender Betrachtung des jungen Lebens, dann dachte sie wieder an Grelert.
Sie beratschlagte nochmals mit Elisabeth, wie ein Besuch bei ihm einzuleiten wäre. Zu der Zeit, als die Freundschaft bald anderthalb Jahre gedauert hatte, erkrankte Elisabeth, kurz vor der Konfirmation. Hermine sprang zu ihr über den Markt, vertrieb ihr von Morgen bis Abend die Zeit und spielte so artig mit der Freundin, daß selbst deren mehrere Jahre älterer Bruder Bruno sich näher setzte und an der Kurzweil teilnahm.
Hermine kam um so lieber, als die Vorbereitungen zur Einsegnungsfeier es zu Hause besonders unwohnlich machten, während die Krankenstube verschont blieb.
Dagott wankte nur öfter vorüber, um Besorgungen auszuführen. Er benutzte das bevorstehende Fest, um noch eins zu feiern. Mit mehreren Herren hatte er sich draußen ein Jagdgelände gepachtet, teils seiner Waffensammlung zu Liebe und um von dem berühmten Bartholomäustreiben seines seligen Großvaters passend zu berichten, teils der Schmausereien wegen. Zwei Tage nach Michaelis – Michaelis war der Termin seines alljährigen Waidfestes – fand die Einsegnung statt. Die Pürsch wurde diesmal um einen Tag verschoben, damit die Doppelmenge des besonders fein zu backenden Kuchens nicht vertrockne. Dagott hatte sich schon lange gefreut und war vor Vergnügen zum Wetterpropheten geworden: „Michael wird diesmal auf weißem Rosse kommen,“ meinte er. Auf weißem Pferde hätte der würdige Mann von einem Erzengel nie gesagt. Also: Michael wird auf weißem Rosse kommen. Eigentlich weissagte er so nur, weil er gern seinen prachtvollen Pelz recht früh hervorgenommen hätte, des Ansehens und Nachsehens halber. Auch zur Jagd zog er ihn bis zum eigentlichen Streifen an und machte auf dem Wagen eine überaus stattliche Figur.
Als nun Michaelistag anbrach, schüttete er ein Meer warmen flüssigen Goldes über die Welt, aber keinen Schnee. Trotzdem geriet Dagott in eine selige Aufregung, weil es der Vortag seines Vergnügens wäre. Und als er nachmittags über den Markt her den Uhrmacher Winterlicht durchs offene Fenster singen hörte, sah er gerührt lange hinüber nach der großen blinden Uhr mit den aufgemalten Zeigern und dachte: „Ach, wie lebt man hier brav! Es scheint immerzu die golden gemütliche Stunde zwei Uhr nachmittags zu bleiben. Wie glücklich klingt aus Winterlichts Munde selbst das Lied von den vier Brettern zum Sarge und dem Rade, das nicht mehr geht; wie fröhlich klappert der Sänger zwischen den Stuhlbeinen, wahrscheinlich mit seinem Mittagslöffel!“ – Lüstern neugierig, wie es wohl mit der Bürgermeisterstochter stünde, zumal Hermine nicht zum Mittagessen gekommen wäre und gewiß auch bei den Nachbarn nicht gegessen hätte, ging er die Kranke besuchen. Aber der Ernst war ihm drüben zu streng, und er legte, um seine behaglich weiche Stimmung nicht etwa vor übermorgen zu verscherzen, bald und gründlich hinter sich den Drücker ins Schloß.
Uhrmacher Winterlicht hatte aus dem Laden eine feine Damenuhr